Die Hand von drüben
Lichtkreis der Taschenlampe floß wie ein dunkler Strom über das Kissen. Ihre kindlichen Arme und kleinen Hände lagen auf der Bettdecke, und der Körper war leicht gekrümmt. Aber keine Blutspur war zu sehen, nur die blauen Lippen und das bleiche Gesicht. Gott sei Dank waren ihre Augen geschlossen, und Hero brauchte nicht in diese aquamarinfarbenen Seen zu blicken. Sie war im Schlaf ermordet worden.
Hero untersuchte auch sie schnell. Der gleiche Fleck war auf dem Laken und dem Nachtgewand des Mädchens. Er roch den gleichen Geruch von bitteren Mandeln, und diesmal war es keine Einbildung. Wie die Schlagzeile einer Zeitung kroch das Wort in Heros Kopf, und dann wurde es ausgelöscht und durch ersetzt. Er erinnerte sich an einen Mann namens Bogdan Staschinsky, einen sowjetischen Spion und Mörder, der vor mehreren Jahren in Westdeutschland geschnappt und ins Gefängnis gesteckt worden war, weil er zwei Männer aus politischen Gründen mit einer Gaspistole umgebracht hatte. Die Pistole hatte einen doppelten Lauf, und wenn man mit ihr schoß, versprühte sie Zyankali. Während des Prozesses hatte Staschinsky ausgesagt, wie er dem einen seiner Opfer auf einer Treppe begegnet und ihm die Ladung in Gesicht, in Nase und Mund gefeuert hatte. Und der Mann, der in seiner Überraschung und Angst tief Luft geholt hatte, hatte damit das Gas und das ausgesprühte Gift in die Lungen gesogen und war höchstwahrscheinlich tot zusammengebrochen, noch ehe sein Körper die Treppe berührt hatte. Als sei er Zuschauer gewesen, glaubte Hero die Exekution der Cryders vor sich zu sehen. Ein Mann war vielleicht auf die gleiche Weise in den Laden gekommen wie er selbst und hatte sich in Paul Cryders Zimmer geschlichen, der dort im Bett saß und las. Ganz vertieft in sein Buch, hatte er weder etwas gesehen noch gehört, ehe es zu spät war. Und bevor er sich auch nur bewegen oder einen Schrei ausstoßen konnte, hatte der Mann, der im Türrahmen stand, seinen Arm gehoben, und man hatte ein Zischen gehört, und etwas Flüssiges war ihm mitten ins Gesicht gesprüht worden. Und danach Dunkelheit. Tina Cryder war nicht einmal erwacht. Ihr Tod war wie ein Übergang vom Schlafen zum Niewiedererwachen gewesen.
Sie waren also umgebracht worden. Die Zyankali-Signatur an den beiden Leichen war russisch.
Aber warum die Todesstrafe? Was hatten sie getan, sie, die dem sowjetischen «Apparat» bei dem Komplott gedient hatten, Constable mit seinem Verstand und seinem Wissen zu fangen, das es rechtfertigte, daß man sie wie zwei Insekten vernichtete? Kein Gerichtsverfahren — eine einfache Exekution!
Und jetzt, da er nach der Antwort suchte, kam ihm eine so entsetzliche in den Sinn, daß er es kaum ertragen würde, über sie nachzudenken. Sie entsprang nur einer Vermutung, einer Hypothese, aber sein lebhafter analytischer Verstand bemächtigte sich ihrer sofort und schmückte sie mit teuflischer und vergeltender Lust aus. Der Zettel, der ihm während der Séance in die Tasche gesteckt wurde, warnte ihn, flehte ihn an, das Kabinett nicht zu betreten! Hatte sie ihr Leben für seins gegeben? Hatte sie davon gewußt, daß man plante, ihn im Dunkel des Kabinetts zu töten? War sie selber an dem Komplott beteiligt und ein Mordinstrument gewesen? War das die Falle gewesen, und hatte das entsetzte Mädchen versucht, durch den Zettel ihrem Auftrag zu entgehen? Wenn es ihm gelang, ihn zu lesen, und die Warnung ihn davon zurückhielt, das Kabinett zu betreten, konnte sie behaupten, daß es nicht ihre Schuld war. Hätte er den Zettel nicht beachtet und wäre hineingegangen, hätte sie ihn dann getötet?
Die Russen waren später irgendwie dahintergekommen, daß sie versagt hatte. Sie hatten Anweisungen gegeben, zu töten. Die Anweisungen waren nicht befolgt worden. Tina Cryder war jetzt eine Gefahr für sie, die sie beseitigen mußten, und ihr Vater ebenso, denn er wußte genausoviel wie sie.
Heros Gewissen wehrte sich gegen diese Rekonstruktion. Tina konnte aus vielen Gründen gestorben sein. Sie konnte den Plan auf eine andere Art in Gefahr gebracht haben, oder sie konnten sie verdächtigt haben, daß sie drauf und dran sei, ein Doppelagent zu werden. Trotzdem, die schwere Last dessen, was er zuerst vermutet hatte, blieb auf seinem Gewissen, und er vermochte nichts dagegen.
Und jetzt blickte der Mann, der von Beruf ein Geisterjäger war und der auf der Suche nach einem Beweis für ein Leben im Jenseits geduldig die Indizien prüfte, auf
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