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Die Hand

Die Hand

Titel: Die Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ecke
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Montagues Leibesfülle eine breite Bresche in das Getümmel schob.
    „Vorsicht, bitte... Moment... Vorsicht, bitte“, rief Mister Montague in regelmäßigen Abständen, indem er Dickis zweiten Koffer wie eine Lanze in die Massen vor ihm stach.
    Als er damit eine nicht minder umfangreiche mittelalterliche Dame traf, kam diese in Erregung und Mister Montague zum Stoppen. Dicki betrachtete staunend den Hut der Frau, auf dem ein leibhaftiger ausgestopfter Sittich hockte. Mehr konnte Dicki nicht von ihr erkennen, da ihm Mister Montague die Sicht versperrte. Dafür hörte er um so deutlicher, daß sich der Schaffner eines wortreichen Angriffs erwehren mußte.
    „Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten. Unverschämtheit“, kreischte die Dame giftig. Der Sittich auf ihrem Kopf nickte heftig.
    Mister Montague war derlei Situationen gewöhnt. Am Anfang einer Reise waren die Leute meistens leicht gereizt, bis sie ihren Platz im Abteil eingenommen hatten. Deshalb war der Schaffner nicht aus der Ruhe zu bringen. „Liebe Frau“, sagte er gemütlich. „Wir haben eine so lange Reise vor uns, daß wir doch nicht gleich zu Beginn schon streiten wollen. Machen Sie bitte Platz.“
    Mister Montagues Ruhe steigerte aber leider die Angriffslust seiner Kontrahentin nur noch, was sich in hohen, schrillen Tönen ausdrückte.
    „Das ist doch die Höhe.“ Sie piekste Mister Montague mit dem Griff ihres Schirmes in den Bauch. „Es ist eine Schande, was für Frechheiten sich heutzutage das Personal herausnimmt. Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie reden, Sie Lümmel?“
    „Ihrer Ausdrucksweise nach jedenfalls nicht mit jemandem aus der feineren Gesellschaft“, teilte nun auch Mister Montague Hiebe aus. Wenn jemand an seiner Ehre als Schaffner kratzte, wurde er fuchtig.
    „Bravo“, rief eine Stimme aus dem Stau, der sich mittlerweile hinter Dicki gebildet hatte. Aus der heftigen Bewegung des Vogels konnte er schließen, daß sich die streitbare Frau ruckartig nach dem neuen Gegner umsah. Das nahm der Sittich übel. Lautlos verschwand er von seinem Platz auf dem Hut und ging zu Boden.
    „Mein Troll. Sie trampeln auf meinem Troll herum, Sie Unmensch“, entsetzte sich die Frau. Hinter Dicki machte sich lautes Gelächter breit. Mister Montague benutzte die augenblickliche Verwirrung, um Dicki an der Hand zu packen und sich schnell mit ihm an der Dame und ihrem Vogel vorbeizuzwängen. Es sah verdächtig nach Flucht aus.
    Mister Montague stöhnte: „Heiliger Strohsack, Dicki. Ich glaube, wir haben uns jetzt erst mal einen Schluck im Speisewagen verdient, wenn wir die Koffer in dein Abteil gebracht haben. Meinst du nicht auch?“
    „Ja, Mister Montague.“ Dicki war sehr froh, den Schaffner bei sich zu haben.
    So begann Dickis Reise. Sie führte ihn direkt in einen aufregenden neuen Fall hinein, von dem er immer noch glaubte, er müsse ihn mit Perry Clifton in London zurücklassen.
    Der Detektiv wäre in diesem Moment, als er dem schnell entschwindenden Zug nachsah, niemals darauf gekommen, daß er Dicki bald nach Wilkesham folgen würde.
    Aber wie hätte Dickis Großvater in solch einem Fall gesagt: „Wer nie sagt, hat sich schon geirrt. Denn nie ist so gut wie selten. Und selten ist mehr als nie.“
    William Miller, der Erfinder unzähliger ulkiger Sprüche und skurriler Ratschläge, hätte auch diesmal wieder recht behalten, was sich bald erweisen sollte.

Zwei Briefe aus Schottland

    29. Juli.
    An diesem Dienstag fand Perry Clifton in seinem Briefkasten zwei Briefe vor, die einige Gemeinsamkeiten aufwiesen.
    Beide waren am selben Tag in den Kasten geworfen worden. In beiden Fällen hieß der Absender Miller, und beide trugen den Stempel der Post von Wilkesham.
    Während Perry Clifton den Brief seines jungen Freundes Dicki Miller erwartet hatte, setzte ihn der Absender des zweiten Briefes doch in Erstaunen. Denn hier handelte es sich um William Miller, Dickis Großvater.
    Unwillkürlich schweiften Perry Cliftons Gedanken zurück zu der Zeit, als Dickis heißgeliebter Großvater nach Wilkesham zog.
    Der Anlaß war traurig gewesen. Im Alter von 79 Jahren war in Wilkesham der Fischhändler und Amateurbotaniker Jonas Miller gestorben. Ein trauriges Ereignis, das hohe Wellen schlug bis ins tausend Kilometer entfernte London. Hier wohnte nämlich William Miller, der Bruder und nächste Erbe jenes Jonas Miller.
    Was die Hinterlassenschaft des Fischhändlers anbetraf, so handelte es sich hierbei um ein stattliches Wohnhaus, das aus allen Ecken

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