Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
kämpfte. Ohne Zusammenhang und Logik purzelten die Bilder und Gedanken durch seinen Kopf.
Ein solches Bild war der Scheck eines Toten namens R. Kartch, und hinter einer unzugänglichen Falltür des Gedächtnisses lauerte etwas, das nicht stimmte. Wie ein schwach leuchtender Stern entzog es sich einer direkten Suche, und er konnte nur hoffen, es aus dem Augenwinkel wahrzunehmen, wenn er nicht bewusst hinschaute.
Er versuchte, sich auf andere Aspekte des Falls zu konzentrieren, aber sein Verstand weigerte sich, in geordneten Bahnen zu arbeiten. Stattdessen sah er die halbgetrocknete Blutlache auf Kartchs Küchenboden, deren äußerer Rand sich im Schatten des wackligen Tischs verlor. Angestrengt starrte er auf den vor ihm liegenden Highway, um das Bild zu verscheuchen, doch an seine Stelle trat nur der ähnlich große Blutfleck auf Mark Mellerys Steinterrasse, dem wiederum die Erinnerung an Mellery folgte, der sich auf einem Adirondack-Stuhl nach vorn lehnte und um Hilfe und Schutz bat.
Nach vorn gelehnt bat er…
Gurney spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.
Schließlich bog er auf einen Parkplatz. Außer seinem gab es nur ein anderes Auto, das eher verlassen als abgestellt wirkte. Sein Gesicht war heiß, die Hände kalt. Nicht richtig denken zu können machte ihm Angst und gab ihm ein Gefühl von Hilflosigkeit.
Wenn er die Dinge durch die Linse der Erschöpfung betrachtete, neigte er dazu, sein Leben als einziges Versagen zu deuten, ein Versagen, das noch schmerzlicher wurde durch das Lob, mit dem man ihn für seine beruflichen Leistungen überschüttet hatte. Er wusste zwar, dass es ein Streich war, den ihm sein übermüdeter Verstand spielte, aber das machte die Sache nicht weniger überzeugend. Schließlich hatte er seine Litanei von Beweisen. Als Kriminalermittler hatte er bei Mark Mellery versagt. Als Ehemann hatte er bei Karen versagt und drohte jetzt auch bei Madeleine zu versagen. Als Vater hatte er bei Danny versagt und drohte jetzt auch bei Kyle zu versagen.
Wenigstens sein Gehirn kannte seine Grenzen, und nach einer weiteren Viertelstunde dieser Selbstgeißelung schaltete es ab. Er fiel in einen kurzen, erholsamen Schlaf.
Er wusste nicht genau, wie lange es dauerte, bestimmt weniger als eine Stunde, doch als er erwachte, war der emotionale Aufruhr vorüber, und an seine Stelle war kompromisslose Klarheit getreten. Außerdem hatte er einen furchtbar steifen Hals, aber das war ein Preis, den er gern bezahlte.
Vielleicht weil plötzlich Raum dafür vorhanden war, formte sich in seinem Kopf ein neues Bild des Postfachrätsels von Wycherly. Die beiden ersten Hypothesen hatten ihn nie richtig zufriedengestellt. Weder die eine, dass die Opfer wegen eines simplen Fehlers dazu aufgefordert wurden, die Schecks an eine falsche Postfachnummer zu senden - angesichts der Sorgfalt, mit der der Mörder vorging, war das äußerst unwahrscheinlich. Noch die andere, dass es zwar das richtige Postfach war, dass aber Dermott durch ein Versehen die Schecks entdeckt und sie zurückgeschickt hatte, ehe der Mörder in ihren Besitz gelangen konnte.
Jetzt fand Gurney eine dritte Erklärung. Angenommen, es war das richtige Postfach, und alles war nach Plan gelaufen. Angenommen, die Schecks waren nie dazu gedacht gewesen, sie einzulösen. Angenommen, der Mörder hatte sich Zugang zum Postfach verschafft, die Umschläge geöffnet, sich die Schecks angesehen oder sogar Kopien davon gemacht, und sie dann wieder in die verschlossenen Kuverts zurückgelegt, bevor Dermott sie entdeckte.
Wenn dieses neue Szenario der Wahrheit näher kam - wenn der Täter Dermotts Postfach also für seine eigenen Zwecke benutzte -, eröffneten sich faszinierende Perspektiven. Möglicherweise konnte Gurney direkten Kontakt zu dem Mörder aufnehmen. Obwohl es sich um eine durch nichts fundierte Spekulation handelte und er noch vor einer Stunde in Verwirrung und Depression versunken
war, versetzte ihn dieser Gedanke in helle Aufregung, und er registrierte erst nach mehreren Minuten, dass er zurück auf den Highway gebogen war und mit hundertdreißig Stundenkilometern nach Hause raste.
Madeleine war nicht da. Er legte Brieftasche und Schlüssel auf den Frühstückstisch und griff nach dem Notizzettel, der dort lag. Die Nachricht in Madeleines schneller, klarer Handschrift war wie üblich herausfordernd knapp. »Bin um 9 beim Yoga. Vor dem Sturm zurück. 5 Nachrichten. War der Fisch eine Flunder?«
Was für ein Sturm?
Was für ein
Weitere Kostenlose Bücher