Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
sein erschöpftes Gehirn spielte nicht mit. Er schloss die Augen, und jeder Ansatz zu linearem Denken löste sich auf. Wieder war er nicht sicher, wie lang er so dagesessen hatte, doch als er die Augen aufschlug, hatte heftiger Schneefall eingesetzt und bereits eine weiße Decke über die Landschaft gelegt. In dieser besonderen Stille hörte er weit entfernt auf der Straße einen näher kommenden Wagen. Er hievte sich aus dem Sessel und trat in die Küche. Durchs Fenster konnte er gerade noch erkennen, wie Madeleines Auto am Ende der Straße hinter der Scheune verschwand - wahrscheinlich wollte sie im Briefkasten nachsehen. Eine Minute später klingelte das Telefon. Er nahm am Apparat auf der Arbeitsplatte ab.
»Gut, dass du zu Hause bist. Weißt du, ob der Postbote schon da war?«
»Madeleine?«
»Ich bin beim Briefkasten. Ich muss was abschicken, aber wenn er schon wieder weg ist, geb ich es im Ort auf.«
»Es war Rhonda, und sie war schon vor einer Weile da.«
»Mist. Na gut, egal, dann kümmere ich mich später drum.«
Langsam kam ihr Wagen hinter der Scheune hervor und bog in den Feldweg zum Haus.
Mit dem angestrengten Gesicht, das sie nach Fahrten im Schnee immer machte, trat sie durch die Küchentür. Dann bemerkte sie etwas in seiner Miene.
»Was ist los?«
Versunken in einen Gedanken, der ihm während ihres Anrufs vom Briefkasten aus gekommen war, brauchte er eine Weile, um zu antworten. Inzwischen hatte sie schon Mantel und Schuhe ausgezogen.
»Ich glaube, ich hab gerade was rausgefunden.«
»Gut!« Lächelnd schüttelte sie sich Schneeflocken aus dem Haar.
»Das Zahlenrätsel - das zweite. Ich weiß jetzt, wie er es gemacht hat, oder zumindest, wie er es gemacht haben könnte.«
»Was war das gleich wieder?«
»Das mit der Zahl neunzehn, als Mellery das Telefongespräch mitgeschnitten hat. Den Brief hab ich dir gezeigt.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Der Mörder hat Mellery aufgefordert, sich eine Zahl zu denken und sie ihm dann zuzuflüstern.«
»Warum wollte er denn, dass Mellery flüstert? Übrigens, die Uhr geht falsch.« Ihr Blick glitt zur Pendeluhr.
Er starrte sie an.
»Entschuldige. Red weiter.«
»Ich glaube, er hat Mellery zum Flüstern aufgefordert, damit er durch dieses unheimliche Element noch stärker
von der Wahrheit abgelenkt wird als durch ein einfaches ›Sag mir die Zahl.‹«
»Das versteh ich nicht.«
»Der Mörder hatte keine Ahnung, welche Zahl sich Mellery ausdenken wird. Um es rauszufinden, musste er ihn fragen. Und das wollte er durch dieses geheimnisvolle Geflüster verschleiern.«
»Aber die Zahl stand doch in einem Brief, der schon in Mellerys Postkasten lag.«
»Ja und nein. Die Zahl stand tatsächlich in dem Brief, den Mellery ein paar Minuten später in seinem Postkasten gefunden hat, aber zu dem Zeitpunkt lag er noch nicht drin. Er war noch nicht mal gedruckt.«
»Das ist mir zu hoch.«
»Angenommen, der Mörder hatte so einen Minidrucker an seinem Notebook und den Text des Briefs an Mellery schon fertig bis auf die richtige Zahl. Und weiter angenommen, der Mörder saß in seinem Auto neben Mellerys Briefkasten auf der dunklen Landstraße, die am Institut vorbeiführt. Er ruft Mellery mit dem Handy an - so wie du gerade von unserem Postkasten - und bringt ihn dazu, sich eine Zahl zu denken und sie ihm dann zuzuflüstern. Sobald Mellery die Zahl genannt hat, fügt der Mörder sie in den Text ein und druckt den Brief aus. Eine halbe Minute später schiebt er den Brief in einen Umschlag, wirft ihn in den Postkasten, fährt weg - und hinterlässt den Eindruck, ein diabolischer Gedankenleser zu sein.«
»Sehr schlau«, fand Madeleine.
»Er oder ich?«
»Beide natürlich.«
»Ich glaube, das passt. Auch, dass er aufgenommenen Verkehrslärm abgespielt hat, um zu kaschieren, dass er sich auf einer stillen Landstraße befindet.«
»Was für Verkehrslärm?«
»Eine intelligente Labortechnikerin vom BCI hat ein Klanganalyseprogramm über Mellerys Mitschnitt des Telefongesprächs laufen lassen und rausgefunden, dass es hinter der Stimme des Mörders zwei Hintergrundgeräusche gab: einen Automotor und Verkehrslärm. Der Motor war erste Generation, das heißt, das Geräusch ist zum gleichen Zeitpunkt entstanden wie der Klang der Stimme, aber der Verkehr war zweite Generation, stammte also von einer Aufnahme, die während des Gesprächs abgespielt wurde. Wir konnten uns nicht erklären, wozu.«
»Aber jetzt hast du’s rausgefunden«, bemerkte Madeleine.
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