Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
nicht, allerdings hätte ihm natürlich klar sein müssen, wie sie ausfallen würde. Also fragte er noch einmal. Diesmal drang das Nein laut und deutlich herunter - lauter und deutlicher als nötig, wie er fand.
Der Schnee übte nicht wie gewöhnlich eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. In dem Fall überschlugen sich die Ereignisse, außerdem kam es ihm immer mehr wie ein Fehler vor, dass er seinen dichterischen Versuch an das Postfach in Wycherly gesandt hatte. Zwar hatte man ihm für die Ermittlungen große Autonomie eingeräumt, die aber wohl kaum »kreative« Interventionen dieser Art abdeckte.
Während er auf den Kaffee wartete, ging es in seinem Kopf drunter und drüber: Bilder vom Tatort in Sotherton samt der Flunder, die er sich so lebhaft vorstellte, als hätte er sie selbst gesehen, und die Nachricht an Dermotts Fenster: Kommt alle her, herbei, herbei! Die Narren sterben - eins, zwei, drei.
Um sich aus diesem emotionalen Morast zu befreien, konnte er entweder den kaputten Dachräumer reparieren oder das »Neunzehn«-Rätsel genauer unter die Lupe nehmen, um vielleicht neue Erkenntnisse zu gewinnen. Er entschied sich für Zweiteres.
Wenn es funktioniert hatte, wie er vermutete, welche Schlussfolgerungen ließen sich daraus ziehen? Dass der Mörder schlau war, Fantasie hatte, auch in schwierigen Situationen kühl blieb und seinen Sadismus auf spielerische Art auslebte? Dass er ein Kontrollfreak und besessen von der Vorstellung war, sich an der Hilflosigkeit seiner Opfer zu weiden? Diese Eigenschaften trafen sicher alle auf ihn zu, aber das war auch vorher schon klar gewesen. Nicht klar war hingegen, warum er diese Vorgehensweise gewählt hatte. Das Auffallendste an der Täuschung mit der Zahl neunzehn war doch, so dämmerte es Gurney allmählich, dass es sich um einen Trick handelte. Mit diesem Trick konnte der Täter den Eindruck erwecken, die Opfer bis in ihre geheimsten Gedanken zu durchschauen, ohne auch nur das Geringste über sie zu wissen.
Moment!
Wie lautete dieser Satz aus dem zweiten Gedicht an Mellery?
Gurney rannte fast von der Küche ins Arbeitszimmer, packte den Fallordner und blätterte eilig darin. Da war es! Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte er das berauschende Gefühl, einen Teil der Wahrheit erfasst zu haben.
Ich weiß, was du denkst, ich weiß es genau,
Weil hinter deine Maske ich schau.
Ich weiß, wo du warst, ich weiß Bescheid,
jetzt und in alle Ewigkeit.
Was hatte Madeleine damals im Bett gesagt? War das letzte oder vorletzte Nacht gewesen? Irgendwas darüber, dass die Botschaften so merkwürdig unkonkret waren, dass sie keine Fakten, keine Namen, keine Orte erwähnten.
In heller Aufregung spürte er, wie sich wesentliche Teilchen des Puzzles zusammenfügten. Das zentrale Teil hatte er die ganze Zeit verkehrt herum in der Hand gehalten. Der Mörder besaß in Wirklichkeit gar keine genauen Kenntnisse über die Opfer und ihre Vergangenheit. Noch einmal las Gurney seine Aufzeichnungen zu den Nachrichten und Telefonanrufen durch, die Mellery und die anderen erhalten hatten, und konnte nicht den geringsten Hinweis darauf entdecken, dass der Mörder etwas anderes von ihnen wusste als ihre Namen und Adressen. Allerdings war ihm offenbar bekannt, dass sie irgendwann in ihrem Leben zu viel getrunken hatten, doch auch hier wurden nirgends Einzelheiten genannt - kein Vorfall, keine Person, kein Ort, keine Zeit. Alles passte zum Bild eines Mörders, der bei seinen Opfern den Eindruck erwecken wollte, sie genau zu kennen, obwohl er eigentlich nichts über sie wusste.
Damit stellte sich eine neue Frage. Warum tötete er Fremde? Wenn der Grund in seinem pathologischen Hass auf alle Menschen mit einem Alkoholproblem zu suchen war, weshalb warf er dann nicht einfach eine Bombe in eine AA-Versammlung - wie Randy Clamm es in der Bronx formuliert hatte?
Wieder überflutete Müdigkeit seinen Kopf und Körper, und seine Gedanken rasten im Kreis. Die Müdigkeit brachte Selbstzweifel mit sich. Die Begeisterung darüber, den Zahlentrick und dessen Bedeutung für das Verhältnis zwischen dem Mörder und seinen Opfern durchschaut zu haben, wurde verdrängt von dem vertrauten Gefühl, dass er das doch schon viel früher hätte begreifen müssen, und dann von der Furcht, dass auch diese neue Erkenntnis in einer Sackgasse enden würde.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
Madeleine stand mit einem prall gefüllten schwarzen Müllbeutel in der Tür zum Arbeitszimmer, die Haare zerzaust vom
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