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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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ich es vor der Nase habe, werde ich es erkennen.«
    »Da bist du sicher?«
    »Bis morgen, Jack.«

43
    Madeleine
    Der nächste Tag kam mit einer eigenartigen Plötzlichkeit. Nach der Unterhaltung mit Hardwick hatte Gurney die Schuhe ausgezogen und sich auf das Sofa im Arbeitszimmer gelegt. Den Rest des Nachmittags und die anschließende Nacht schlief er tief und ohne Unterbrechung. Als er die Augen aufschlug, war es Morgen.
    Er stand auf und schaute durchs Fenster, während er sich streckte. Über den braunen Grat an der Ostseite des Tals kroch bereits die Sonne, und er schätzte die Zeit auf sieben Uhr. Zu der BCI-Konferenz musste er erst um halb elf aufbrechen. Der Himmel war makellos blau, und der Schnee glitzerte, als wären Glassplitter daruntergemischt worden. Die Schönheit und Friedlichkeit der Landschaft verband sich mit dem Aroma von frischem Kaffee zu dem Eindruck, dass das Leben doch im Grunde einfach und gut war. Der lange Schlaf hatte ihn durch und durch erfrischt. Er fühlte sich bereit für die Anrufe bei Sonya und Kyle, die er hinausgeschoben hatte, und nur die Erkenntnis, dass sie beide sicher noch schliefen, hielt ihn davon ab, zum Hörer zu greifen. Mehrere Sekunden verweilte er bei dem Bild von Sonya im Bett, dann trat er hinaus in die Küche mit dem festen Vorsatz, gleich nach neun zu telefonieren.
    Im Haus herrschte eine Atmosphäre von Leere wie immer,
wenn Madeleine nicht da war. Eine Notiz auf der Arbeitsplatte bestätigte ihre Abwesenheit. »Morgengrauen. Kurz vor Sonnenaufgang. Unglaublich schön. Laufe mit den Schneeschuhen zu Carlson’s Ledge. Kaffee in der Kanne. M.« Er ging ins Bad, um sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Als er sich kämmte, kam er auf die Idee, sich ihr anzuschließen. Sie hatte den bevorstehenden Sonnenaufgang erwähnt, war also erst vor ungefähr zehn Minuten aufgebrochen. Wenn er mit den Langlaufskiern ihrer Spur folgte, hatte er sie wahrscheinlich in ungefähr zwanzig Minuten eingeholt.
    Er zog Skihose und -stiefel über die Jeans, schlüpfte in einen dicken Wollpullover, schnallte die Skier an und trat durch die Hintertür in dreißig Zentimeter tiefen Pulverschnee. Der Kamm, der einen weiten Blick ins nördliche Tal und die Berge dahinter bot, lag rund eineinhalb Kilometer entfernt und war über einen alten Holzfällerweg an einer sanften Anhöhe zugänglich, die am hinteren Ende ihres Grundstücks begann. Im Sommer war er von wilden Himbeerbüschen überwuchert und unpassierbar, doch im Spätherbst und Winter wich das dornige Gestrüpp zurück.
    Aus den kahlen Baumwipfeln hundert Meter vor ihm erhob sich eine Gruppe wachsamer Krähen, ihre Schreie die einzigen Laute in der kalten Luft. Bald waren sie jenseits des Kamms verschwunden und hinterließen eine noch tiefere Stille.
    Als Gurney aus dem Wald auf den Felsvorsprung über Carsons Bergfarm gelangte, entdeckte er Madeleine. Keine zwanzig Meter vor ihm saß sie still auf einer Steinplatte und blickte hinaus in die Landschaft, die sich wellenförmig bis zum Horizont hinzog. Nur zwei ferne Silos und eine gewundene Straße zeugten von menschlicher Anwesenheit.
Gebannt von der Reglosigkeit ihrer Haltung blieb er stehen. Sie wirkte so … absolut allein und doch so verbunden mit der Welt. Ein Leuchtfeuer, das ihn an einen für ihn unerreichbaren Ort winkte.
    Ohne Vorwarnung, ohne Möglichkeit, die Empfindung in Worte zu fassen, schnürte es ihm das Herz zusammen.
    Mein Gott, war das eine Art Zusammenbruch? Zum dritten Mal innerhalb einer Woche stiegen ihm Tränen in die Augen. Er schluckte und wischte sich das Gesicht ab. Benommen stellte er die Skier weiter auseinander, um das Gleichgewicht zu halten.
    Vielleicht hatte sie die Bewegung aus dem Augenwinkel erspäht oder seine Skier auf dem trockenen Schnee gehört, jedenfalls wandte sie sich um und beobachtete, wie er näher kam. Sie lächelte leise, ohne etwas zu sagen. Er hatte den merkwürdigen Eindruck, dass sie nicht nur seinen Körper sah, sondern auch seine Seele - merkwürdig deswegen, weil er den Begriff Seele eigentlich nie benutzte und nichts damit anfangen konnte. Er setzte sich neben sie auf den flachen Fels und wandte sich dem Panorama von Hügeln und Tälern zu, ohne etwas davon wahrzunehmen. Sie fasste nach seinem Arm und drückte ihn an sich.
    Forschend schaute er ihr ins Gesicht, dessen Ausdruck er nicht hätte in Worte fassen können. Es war, als würde sich das ganze Leuchten der schneebedeckten Landschaft in ihrer Miene und das

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