Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
würde ich gern hören, wie Dr. Holdenfield darüber denkt.«
Nach einem kurzen Achselzucken sprach sie schnell und sachlich. »Dreißig Jahre alt, weiß, männlich, hoher IQ, keine Freunde, keine normalen sexuellen Beziehungen. Höflich, aber distanziert. Hatte mit größter Wahrscheinlichkeit eine gestörte Kindheit mit einem zentralen Trauma, das sich auf die Wahl seiner Opfer auswirkt. Da seine Opfer Männer in mittlerem Alter sind, ist es möglich, dass sich dieses Trauma um seinen Vater und eine ödipale Beziehung zu seiner Mutter dreht…«
Blatt unterbrach sie. »Sie wollen doch nicht sagen, dass dieser Typ wirklich… ich meine… dass er mit seiner Mutter…?«
»Nicht unbedingt. Hier geht es vor allem um Fantasien. Er lebt in seiner Fantasiewelt, lebt nur für sie.«
Rodriguez’ Stimme knarzte vor Ungeduld. »Ich habe ein echtes Problem mit diesem Wort, Doctor Holdenfield. Fünf Tote sind keine Fantasie!«
»Da haben Sie natürlich Recht, Captain. Für Sie und mich sind sie keine Fantasie. Es sind reale Personen mit einem eigenen Leben, die Respekt und Gerechtigkeit verdienen. Aber für einen Serienmörder sind sie das nicht. Für ihn sind sie nur Akteure in seinem Spiel, keine Menschen, wie Sie und ich den Begriff verstehen. Für ihn sind sie zweidimensionale Statisten, die zu seinen Fantasien gehören wie die rituellen Elemente, die an den Tatorten entdeckt wurden.«
Rodriguez schüttelte den Kopf. »Na schön, was Sie sagen, mag im Fall eines wahnsinnigen Serienmörders einen Sinn ergeben. Aber ich habe auch andere Probleme mit diesem Ansatz. Ich meine, wer hat denn entschieden, dass es sich hier um einen Fall von Serienmorden handelt? Sie legen sich da fest, haben aber nicht den geringsten …« Er stockte, weil ihm wohl aufgefallen war, wie schrill seine Stimme geworden und wie unklug es war, eine von Sheridan Klines Lieblingsberaterinnen zu attackieren. In versöhnlicherem Ton fuhr er fort: »Ich meine, aufeinanderfolgende Morde sind nicht immer das Werk eines Serienmörders. Man kann den Fall auch anders betrachten.«
Die Psychologin wirkte ehrlich verblüfft. »Sie haben eine alternative Hypothese?«
Rodriguez seufzte. »Gurney redet immer von einem Faktor neben dem Alkohol, der die Wahl der Opfer erklären soll. Ein naheliegender Faktor wäre vielleicht ihre gemeinsame Beteiligung an einer vergangenen Handlung, zufällig oder absichtlich, die den Mörder verletzt hat, und jetzt erleben wir eben die Rache an der Gruppe, die für
die Verletzung verantwortlich war. Es könnte also auch ganz einfach sein.«
»Ich möchte ein derartiges Szenario nicht völlig ausschließen«, antwortete Holdenfield, »aber die Planung, die Gedichte, die Details, das Rituelle wirken für einfache Rache einfach zu pathologisch.«
»Weil wir gerade von pathologisch reden«, krächzte Jack Hardwick wie ein Kehlkopfkrebskranker kurz vor dem Exitus, »das wäre jetzt vielleicht der geeignete Zeitpunkt, alle hier über die neuesten bekloppten Spuren zu informieren, mit denen uns der Täter beehrt hat.«
Rodriguez funkelte ihn an. »Wieder so eine Überraschung?«
Hardwick zeigte keine Reaktion. »Auf Gurneys Anfrage hin wurde ein Spurensicherungsteam zu dem Gasthof geschickt, in dem der Täter vielleicht die Nacht vor dem Mord an Mellery verbracht hat.«
»Wer hat das genehmigt?«
»Ich, Sir.« Hardwick schien geradezu stolz auf seinen Regelverstoß.
»Warum habe ich da keinen Antrag gesehen?«
»Gurney hielt es für dringend«, log Hardwick. Dann hob er plötzlich mit einem merkwürdig gequälten Ausdruck die Hand an die Brust, als hätte er einen Herzinfarkt - und stieß ein dröhnendes Rülpsen aus. Blatt, der aus einem Tagtraum gerissen wurde, fuhr so heftig zurück, dass beinahe sein Stuhl umgekippt wäre.
Bevor der entgeisterte Rodriguez wieder auf den fehlenden Antrag zurückkommen konnte, übernahm Gurney die Staffette von Hardwick und erläuterte ausführlich, warum er es für notwendig erachtet hatte, die Spurensicherung zum Gasthof The Laurels zu schicken.
»In dem ersten Brief an Mellery hat der Mörder den
Namen X. Arybdis benutzt. Im Griechischen ist ein X das Äquivalent zu Ch, und Charybdis ist der Name eines mörderischen Strudels in der griechischen Mythologie, der mit einer anderen verhängnisvollen Gefahr namens Scylla verbunden ist. In der Nacht von Mellerys Ermordung haben in dem Gasthof ein Mann und eine ältere Frau übernachtet, die als ihren Namen Scylla angegeben haben. Es würde
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