Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
dauerte, bevor er schließlich melodramatisch die Karte nannte, die er natürlich schon kannte, seit sie gezogen worden war.«
»Wieso?«, fragte Blatt verwirrt.
»Wenn er die Karten am Anfang vorbereitet hatte, noch vor dem Auffächern, konnte er sich zumindest eine Karte einprägen und ihre Position im Stapel im Blick behalten.«
»Und wenn sie niemand gezogen hat?«, erkundigte sich Holdenfield.
»Dann hat er die Vorführung unter irgendeinem Vorwand abgebrochen - zum Beispiel ist ihm plötzlich eingefallen, dass er Teewasser aufgesetzt hatte, damit niemand merkt, dass er ein Problem mit dem Trick hatte. Aber dazu war er fast nie gezwungen. Er hat das aufgefächerte Kartenspiel immer so angeboten, dass spätestens die dritte Person genau die Karte gezogen hat, die er sich gemerkt hatte. Und wenn nicht, kam eben sein kleines Ablenkungsmanöver mit der Küche, und er konnte noch mal von vorn anfangen. Natürlich hatte er immer vollkommen plausible Gründe, die Leute auszusortieren, die eine falsche Karte gezogen hatten, so dass niemand den Trick durchschaut hat.«
Rodriguez gähnte. »Gibt es da auch irgendeine Verbindung zu der Zahlengeschichte?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, antwortete Gurney. »Aber die Vorstellung, dass jemand glaubt, eine beliebige Karte zu ziehen, während diese Beliebigkeit nur scheinbar …«
Sergeant Wigg, die mit wachsendem Interesse zugehört hatte, schaltete sich ein. »Ihre Anekdote mit dem Kartentrick erinnert mich an diesen Privatdetekteischwindel in den späten Neunzigern.«
Ob es an ihrer ungewöhnlichen Stimme im Register zwischen männlich und weiblich lag oder an der Tatsache, dass sie sich überhaupt zu Wort meldete, jedenfalls hatte sie sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.
»Jemand bekommt einen Brief von einer Privatdetektei, die sich dafür entschuldigt, in die Privatsphäre des Adressaten eingedrungen zu sein. Die Detektei ›gesteht‹, dass sie den Betreffenden im Lauf eines Überwachungsauftrags
aus Versehen mehrere Wochen lang verfolgt und ihn in verschiedenen Situationen fotografiert hat. Sie behauptet, dass sie gesetzlich verpflichtet ist, ihm alle vorhandenen Abzüge dieser Fotos zurückzugeben. Und jetzt kommt die Trickfrage: Da manche Fotos kompromittierend sind, wäre es dem Adressaten lieber, wenn sie an ein Postfach gesandt werden statt direkt zu ihm nach Hause? Falls ja, muss die Detektei leider eine Gebühr von fünfzig Dollar erheben, um die zusätzlichen Verwaltungskosten zu decken.«
»Wer so blöd ist, dass er auf so was reinfällt, dem geschieht es recht, wenn er fünfzig Dollar verliert«, höhnte Rodriguez.
»Ach, manche Leute haben viel mehr verloren », erwiderte Wigg gelassen. »Denn um die fünfzig Dollar ging es gar nicht. Das war nur der Test. Der Betrüger hat über eine Million von diesen Briefen verschickt, und zwar nur mit der Absicht, eine Liste von Leuten zu kriegen, die auf keinen Fall wollen, dass den Ehepartnern Fotos von ihren Aktivitäten in die Hände fallen. Danach sahen sich die Betreffenden mit einer Reihe weit höherer Geldforderungen konfrontiert, und im Gegenzug wurde ihnen die Rückgabe der kompromittierenden Fotos in Aussicht gestellt. Einige haben bis zu fünfzehntausend Dollar bezahlt.«
»Für Fotos, die nie existiert haben!«, stieß Kline mit einer Mischung aus Entrüstung und Bewunderung aus.
»Ich kann mich nur immer wieder wundern über die Dummheit …«, begann Rodriguez, doch Gurney fuhr dazwischen.
»Mein Gott! Das ist es! Deswegen die Forderung von zweihundertneunundachtzig Dollar. Es ist genau das Gleiche. Ein Test!«
Rodriguez riss die Augen auf. »Was für ein Test?«
Gurney schloss die Augen, um sich den Brief zu vergegenwärtigen, der Mellery zu einer Geldzahlung aufgefordert hatte.
Stirnrunzelnd wandte sich Kline an Wigg. »Dieser Trickbetrüger - Sie sagen, er hat eine Million Briefe verschickt?«
»Wenn ich mich recht erinnere, wurde diese Zahl in den Presseberichten genannt.«
»Dann haben wir hier natürlich eine ganz andere Situation. Das war praktisch eine Postkampagne - ein großes Netz, um ein paar schuldige Fische zu fangen. In unserem Fall sieht es anders aus. Wir haben es mit handschriftlichen Briefen an eine Handvoll Leute zu tun - Leute, für die die Zahl sechshundertachtundfünfzig irgendeine Bedeutung gehabt haben muss.«
Langsam schlug Gurney die Augen auf und schaute den Bezirksstaatsanwalt an. »Aber sie hatte keine Bedeutung. Zuerst dachte ich auch, dass es
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