Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
erkennen, ob er das sah, was tatsächlich da war, oder ob er die Szenerie eines anderen Ortes und einer anderen Zeit darüberstülpte. Dann wandte er sich auf die gleiche unbestimmte Art der Frau im Bett zu und sagte in entrückter Peter-Pan-Begeisterung: »Alles wird wunderbar. Alles wird so, wie es immer hätte sein müssen.« Leise summte er ein paar unzusammenhängende Töne, bis Gurney schließlich ein Kinderlied erkannte: »Here We Go Round the Mulberry Bush«. Vielleicht lag es daran, dass ihm das Unlogische solcher Verse schon immer widerstrebt hatte, vielleicht lag es auch an den schwindelerregenden Bildern dieses Lieds oder an der grotesken Unangemessenheit der Musik in diesem Augenblick - jedenfalls wurde ihm so übel, dass er sich am liebsten übergeben hätte.
Dann fügte Dermott Wörter hinzu, aber nicht die richtigen. Wie ein Kind sang er: »Jetzt gehen wir wieder ins Bett, wieder ins Bett, wieder ins Bett. Jetzt gehen wir wieder ins Bett, so früh am Morgen.«
»Ich muss pinkeln«, sagte die Frau.
Dermott fuhr mit seinem Singsang fort, als wäre es ein Wiegenlied. Gurney fragte sich, wie abgelenkt der Mann in Wirklichkeit war. Genug, um ihn mit einem Sprung übers Bett anzugreifen? Wohl kaum. War damit zu rechnen, dass er sich später eine größere Blöße gab? Wenn Dermotts Chlorgasgeschichte nicht nur eine schauerliche Fantasie war, sondern ein realer Plan, wie viel Zeit blieb ihnen dann noch? Wahrscheinlich nicht mehr viel.
Im Haus oben herrschte Totenstille. Nichts wies darauf hin, dass einer der Polizisten aus Wycherly die Abwesenheit des Lieutenant entdeckt oder gar deren Bedeutung erkannt haben könnte. Keine erhobenen Stimmen, kein hektisches Getrappel, kein Laut. Und das hieß wohl, dass Nardos und sein eigenes Überleben davon abhing, was ihm in den nächsten fünf bis zehn Minuten einfiel, um den Psychopathen, der soeben die Kissen auf dem Bett aufschüttelte, aus der Bahn zu werfen.
Dermott hörte plötzlich auf zu singen. Mit einem Schritt zur Seite brachte er sich in eine Position, von der aus er Nardo und Gurney gut im Blick hatte. Rhythmisch und präzise wie einen Dirigentenstab schwang er den Revolver hin und her, um erst auf den einen, dann auf den anderen zu zielen. Vielleicht aufgrund der Lippenbewegungen des Mannes hatte Gurney den Eindruck, dass er die Waffe im Takt eines Abzählreims schwenkte. Die Möglichkeit, dass diese stumme Rezitation in wenigen Sekunden mit einer Kugel in einem ihrer Köpfe enden könnte, schien überwältigend real - so real, dass sie Gurney zu einem verzweifelten Ausfall anstachelte.
Leise und in möglichst beifälligem Ton fragte er: »Zieht sie die rubinroten Schuhe auch manchmal an?«
Dermotts Lippen erstarrten, und über sein Gesicht breitete sich wieder tiefe, bedrohliche Leere. Der Revolver kam aus dem Takt. Langsam wie ein bremsendes Rouletterad richtete sich der Lauf auf Gurney.
Es war nicht das erste Mal, dass er in die Mündung einer Schusswaffe blickte, aber noch nie in den siebenundvierzig Jahren seines Lebens hatte er sich dem Tod so nahe gefühlt. Er spürte ein leichtes Ziehen an der Haut, als würde das Blut an einen sichereren Ort zurückweichen. Doch auf einmal wurde er ganz ruhig. Er musste
an Berichte von Männern denken, die ins eisige Meer gestürzt waren, an die halluzinatorische Gelassenheit, die sie empfanden, bevor sie das Bewusstsein verloren. Er blickte in Dermotts asymetrische Augen - das eine leichenstarr nach einem lang zurückliegenden Gemetzel, das andere brennend vor Hass. In diesem zweiten Auge nahm er so etwas wie eine schnelle Kalkulation wahr. Vielleicht hatte Gurneys Erwähnung der gestohlenen Schuhe aus dem Gasthof ihren Zweck erfüllt und Fragen aufgeworfen, die nach einer Antwort verlangten. Vielleicht überlegte Dermott, wie viel Gurney wusste und wie sich dieses Wissen auf die Durchführung seines Endspiels auswirken konnte.
Wenn ja, dann gelangte Dermott mit beängstigender Geschwindigkeit zu einer Lösung. Zum zweiten Mal ließ sein Grinsen kleine, perlweiße Zähne sehen.
»Haben Sie meine Nachrichten bekommen?«, erkundigte er sich in neckischem Ton.
Gurney spürte, wie ihm die Ruhe wieder entglitt. Bei einer falschen Antwort auf diese Frage musste er mit ernsten Problemen rechnen. Gleiches galt, wenn er schwieg. Er konnte nur hoffen, dass Dermott auf die einzigen zwei nachrichtenartigen Dinge anspielte, die im The Laurels entdeckt worden waren.
»Sie meinen das Zitat aus Shining? «
»Das
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