Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
sich eine blitzschnelle Berechnung, doch Gurney hatte keine Ahnung, welche Optionen der Mann überschlug. Und ob ihm klar war, was hier gespielt wurde.
Falls in Dermotts Augen überhaupt irgendetwas zu erkennen war, dann die Geduld einer Katze beim Betrachten einer Maus, die rettungslos gefangen war.
»Sir«, bemerkte Nardo mit gespielter Betroffenheit, »es wäre wirklich eine gute Idee, die Waffe wegzulegen.«
Dermott schüttelte den Kopf. »Nicht so gut, wie Sie glauben.«
Nardo wirkte verblüfft. »Legen Sie sie weg, Sir.«
»Das wäre eine Möglichkeit. Aber da gibt es eine Komplikation. Bekanntlich ist nichts im Leben einfach.«
»Komplikation?« Nardo redete mit Dermott, als wäre er ein harmloser Bürger, der nur dummerweise seine Beruhigungsmedikamente zu nehmen vergessen hatte.
»Ich werde die Waffe weglegen, nachdem ich Sie erschossen habe. Wenn ich sie sofort weglegen soll, muss ich Sie jetzt gleich erschießen. Das will ich nicht, und Sie wollen das bestimmt auch nicht. Verstehen Sie nun das Problem?« Während Dermott sprach, hob er den Revolver so, dass er auf Nardos Hals zielte.
Ob es Dermotts ruhige Hand war oder der gelassene Spott in seiner Stimme, jedenfalls sah Nardo wohl die Notwendigkeit ein, sich auf eine andere Strategie zu verlegen. »Wenn Sie schießen, was glauben Sie, passiert dann als Nächstes?«
Dermott zuckte die Achseln, und sein dünner Strichmund dehnte sich erneut. »Sie sterben.«
Nardo deutete ein Nicken an, als hätte ein Schüler eine offensichtlich unvollständige Antwort gegeben. »Und was dann?«
»Was spielt das für eine Rolle?« Dermotts Blick folgte dem Lauf, der auf Nardos Hals gerichtet war.
Der Lieutenant musste sich offensichtlich stark zusammennehmen, um seine Wut und Furcht zu unterdrücken. »Für mich keine mehr, aber für Sie schon. Wenn Sie abdrücken, dann rücken Ihnen in weniger als einer Minute zwanzig Polizisten auf die Pelle. Die reißen Sie in Stücke.«
Dermott gab sich amüsiert. »Was wissen Sie über Krähen, Lieutenant?«
Nardo blinzelte verwirrt.
»Krähen sind unglaublich dumm«, erklärte Dermott. »Wenn man eine erschießt, kommt die nächste angeflogen. Wenn man die erschießt, kommt wieder eine und noch eine und noch eine. Man schießt sie nacheinander ab, und sie kommen trotzdem immer weiter.«
Gurney hatte schon einmal davon gehört, dass Krähen keinen Artgenossen allein sterben ließen. Wenn eine Krähe starb, ließen sich andere neben ihr nieder, um ihr Gesellschaft zu leisten. Als er diese Geschichte mit zehn oder elf Jahren zum ersten Mal von seiner Großmutter gehört hatte, lief er ins Bad, weil er weinen musste.
»Einmal habe ich ein Bild gesehen, von einer Krähenjagd auf einer Farm in Nebraska.« In Dermotts Stimme
schwang eine Mischung aus Staunen und Verachtung. »Ein Farmer mit einer Flinte stand neben einem Haufen toter Krähen, der ihm schon bis zur Schulter ging.« Er hielt inne, als wollte er Nardo Gelegenheit geben, sich zu vergegenwärtigen, wie selbstmörderisch das Handeln der Krähen war und welche Schlüsse daraus für die jetzige Situation zu ziehen waren.
Nardo schüttelte den Kopf. »Glauben Sie wirklich, Sie können hier gemütlich sitzen und einen Polizisten nach dem anderen abknallen, der durch die Tür reinspaziert? So wird das nicht laufen.«
»Natürlich nicht. Hat Ihnen noch nie jemand verraten, dass buchstäbliches Denken engstirnig ist? Die Krähengeschichte gefällt mir, Lieutenant, aber es gibt zweckmäßigere Methoden zur Vertilgung von Ungeziefer, als es nacheinander abzuknallen. Vergasen zum Beispiel. Vergasen kann sehr wirksam sein, wenn man über die richtige Infrastruktur verfügt. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass alle Zimmer in diesem Haus mit einer Sprinkleranlage ausgerüstet sind. Nur dieser Raum ist eine Ausnahme.« Sein lebhafteres Auge glitzerte vor Selbstzufriedenheit. »Wenn ich Sie erschieße, kommen alle Krähen angeflogen, dann öffne ich zwei Ventile an zwei kleinen Rohrleitungen, und zwanzig Sekunden später …« Er setzte ein engelhaftes Lächeln auf. »Haben Sie eine Ahnung, was konzentriertes Chlorgas mit einer menschlichen Lunge anstellt? Und wie schnell das geschieht?«
Gurney beobachtete, wie Nardo mit sich rang, um zu entscheiden, wie er diesen erschreckend beherrschten Mann und seine tödliche Drohung einschätzen sollte. Einen nervenaufreibenden Moment lang glaubte er schon, dass sich der Lieutenant aus Stolz oder Wut zu einer überstürzten
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