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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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wiederholte der Brief in dem kleineren Umschlag die Behauptung persönlicher Bekanntschaft und nannte den Betrag von 289,87 Dollar, der bei der Suche nach Mellery aufgelaufen war (obwohl es im ersten Brief nach einer Zufallsbegegnung klang) und der zu bezahlen war, bevor der Verfasser seine Identität preisgab; er ließ die Wahl zwischen Barzahlung und Scheck, nannte »X. Arybdis« als den Namen, auf den der Scheck auszustellen, und eine Postfachadresse in Wycherly, an die die Summe zu senden war. Zuletzt bot er eine Erklärung dafür, warum Mellery
den Namen nicht kannte. Gurney notierte sich alles auf seinen Block, um seine Gedanken zu ordnen.
    Diese kreisten um vier Fragen: Wie konnte man die Zahlenvorhersage erklären, ohne Dinge wie Hypnose oder außersinnliche Wahrnehmung zu unterstellen? Hatte die zweite Zahl in dem Brief - 289,87 Dollar - noch eine andere als die angegebene Bedeutung? Warum die Wahl zwischen Barzahlung und Scheck, die wie eine Parodie auf ein Werbeangebot klang? Und was genau an dem Namen Arybdis regte sich in einem dunklen Winkel von Gurneys Gedächtnis? Er schrieb die Fragen neben seine anderen Notizen.
    Als Nächstes legte er die drei Gedichte in der Reihenfolge ihres Eintreffens aus.
    Ahnst du, wie viel Tropfen fassen
All die Bäche, Flüsse, Meere?
Und wie viele Tropfen passen
In eine Flasche voller Leere?
Hast je darüber du sinniert,
Ob einst dein Glas zur Waffe wird?
Dass du dich fragst nach deinem Wahn:
O Gott, was hab ich nur getan?
     
    Du wirst geben, was du genommen,
was du gegeben hast, wirst du bekommen.
Ich weiß, was du denkst, ich weiß es genau,
Weil hinter deine Maske ich schau.
Ich weiß, wo du warst, ich weiß Bescheid,
jetzt und in alle Ewigkeit.
Unser Treffen ist abgemacht.
Denk dran, Mister Sechs-fünf-acht.

     
    Ich tu, was ich tat, nicht etwa aus Spaß,
Und auch nicht für Geld. Das ist nicht mein Maß.
Nein, die Waage ist neu zu eichen,
Durch Buße endlich Balance zu erreichen.
Ich tu es für Blut in der makellosen
Roten Farbe gemalter Rosen.
Erkenne es nun, erkenne es jetzt:
Was einst man gesät, bekommt man zuletzt.
    Als Erstes fiel ihm der veränderte Ton auf. Das Spielerische aus den Prosanachrichten gab es hier nicht. Das erste Gedicht wirkte anklagend, das zweite offen bedrohlich, das dritte rachsüchtig. Wenn man die Frage ausklammerte, wie ernst das Ganze zu nehmen war, war die Botschaft klar: Der Verfasser (X. Arybdis?) hatte die Absicht, mit Mellery abzurechnen (ihn zu töten?), und zwar wegen einer alkoholbedingten Tat. Als Gurney das Wort »töten« notierte, schoss ihm wieder die erste Strophe des zweiten Gedichts in den Sinn:
    Du wirst geben, was du genommen,
was du gegeben hast, wirst du bekommen.
    Auf einmal wusste er genau, was die Worte besagten, und ihre Bedeutung war von erschreckender Schlichtheit. Für das Leben, das du genommen hast, wirst du dein eigenes Leben geben. Was du getan hast, wird dir getan.
    Er wusste nicht, ob ihn der plötzlich gefühlte Schauer davon überzeugte, dass er Recht hatte, oder ob er schauerte, weil er sicher war, richtig zu liegen, in jedem Fall hatte er keinen Zweifel mehr. Doch damit waren seine anderen Fragen nicht beantwortet. Sie wurden nur drängender, und neue kamen dazu.

    War das nur eine Morddrohung, die darauf zielte, quälende Angst auszulösen, oder stellte sie eine konkrete Absichtserklärung dar? Worauf bezog sich der Verfasser mit den Worten » Ich tu, was ich tat « der ersten Zeile des dritten Gedichts? War er schon einmal gegen eine andere Person vorgegangen, wie er nun gegen Mellery vorzugehen gedachte? Hatte Mellery vielleicht eine Tat zusammen mit einem anderen verübt, den der Verfasser schon erledigt hatte? Gurney notierte sich, dass er Mellery fragen wollte, ob je einer seiner Freunde oder Bekannten getötet, angegriffen oder bedroht worden war.
    Vielleicht war es das Blitzen jenseits der schwarzen Berge oder die unheimliche Beharrlichkeit des leisen Donners oder auch seine Erschöpfung - auf jeden Fall schien sich die Persönlichkeit, die hinter den Briefen steckte, aus den Schatten zu lösen. Der teilnahmslose Ton in diesen Gedichten, die blutige Entschlossenheit und sorgsame Syntax, Hass und Berechnung - aus Erfahrung wusste er, welch verheerende Folgen die Kombination dieser Eigenschaften nach sich ziehen konnte. Als er durch das Fenster hinaus auf das nahende Gewitter starrte, spürte er förmlich, wie ihm aus diesen Briefen das eisige Wesen eines Psychopathen

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