Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Bedeutung. Scylla und Charybdis waren zwei reale Gefahrenstellen in der Meerenge von Messina. Die Schiffe mussten sich einen Weg zwischen ihnen suchen, und viele wurden dabei zerstört. In der Mythologie sind dann Ungeheuer daraus geworden.«
»Was für Gefahrenstellen waren das genau?«
»Scylla war der Name für einen zerklüfteten Felsvorsprung, gegen den die Schiffe immer wieder getrieben wurden, bis sie gesunken sind.«
Als er nicht sofort weitersprach, hakte sie nach: »Und Charybdis?«
Er räusperte sich. Irgendwas an der Vorstellung von Charybdis empfand er als besonders beunruhigend. »Charybdis war ein Strudel. Ein äußerst mächtiger Strudel. Wenn jemand davon erfasst wurde, konnte er sich nicht mehr befreien. Er wurde in die Tiefe gezogen und in Stücke gerissen.« Mit verstörender Klarheit erinnerte er sich an eine Illlustration aus der Odyssee , die er vor vielen Jahren
gesehen hatte: Ein Seemann mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht, der in dem gewaltigen Mahlstrom gefangen war.
Wieder ertönte der Ruf aus den Wäldern.
»Komm«, sagte Madeleine. »Wir müssen zurück. Es fängt gleich an zu regnen.«
Er folgte ihr zum Auto, und sie fuhren langsam durch die Wiese zum Haus.
Bevor sie dort waren, wandte er sich zu ihr: »Aber du siehst nicht in jedem x ein mögliches ch? «
»Natürlich nicht.«
»Wie bist du dann...?«
»Weil sich ›Arybdis‹ griechisch anhört.«
»Stimmt, klar.«
Unterstützt von der bewölkten Nacht, blieb ihre Miene unergründlich. Nach einer Weile sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns in der Stimme: »Du hörst nie auf zu grübeln, nicht wahr?«
Dann setzte der Regen ein, wie sie es vorausgesagt hatte.
9
Unbekannt
Nachdem sie mehrere Stunden von den Bergen aufgehalten worden war, fegte eine starke Kaltfront mit heftigen Windstößen und Regen über die Gegend. Am Morgen war der Boden mit Laub bedeckt, und ein intensiver Geruch nach Herbst lag in der Luft. Die Wassertropfen auf dem Wiesengras ließen das Sonnenlicht in rote Funken zerstieben.
Als Gurney zu seinem Auto trat, weckte der Ansturm auf seine Sinne Eindrücke aus seiner Kindheit, als der süße Duft des Grases noch gleichbedeutend gewesen war mit Frieden und Geborgenheit. Dann waren sie verschwunden - ausgelöscht von seinem Vorhaben.
Er war auf dem Weg zum Institut für spirituelle Erneuerung. Wenn sich Mark Mellery weiter dagegen sträubte, die Polizei einzuschalten, wollte er zumindest unter vier Augen mit ihm über diese Entscheidung diskutieren. Nicht weil er vorhatte, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Im Gegenteil, je mehr er nachdachte, desto neugieriger wurde er auf die herausgehobene Stellung seines früheren Studienfreundes in der Welt und die Frage, ob da ein Zusammenhang zu den Drohungen bestand. Solange er auf bestimmte Grenzen achtete, blieb ihm neben der Polizei Spielraum für Ermittlungen.
Er hatte Mellery telefonisch von seinem Kommen unterrichtet.
Der Vormittag war wie geschaffen für eine Fahrt durch die Berge. Die Strecke nach Peony führte ihn zuerst durch Walnut Crossing, das wie viele Ortschaften in den Catskills im neunzehnten Jahrhundert um eine Kreuzung zweier wichtiger Straßen gewachsen war. Die Kreuzung hatte zwar ihre Bedeutung verloren, existierte aber noch. Der namenstiftende Walnussbaum hingegen war zusammen mit dem Wohlstand der Gegend schon längst verschwunden. Doch der wirtschaftliche Niedergang, so ernst er war, hatte auch eine malerische Seite: verwitterte Scheunen und Silos, verrostete Pflüge und Heuwagen, verlassene, mit verwelkten Goldruten überwucherte Bergfelder. Die Straße von Walnut Crossing nach Peony schlängelte sich durch ein postkartenartiges Flusstal, in dem eine Handvoll alter Farmen nach innovativen Überlebensmöglichkeiten suchten. Zum Beispiel Abelard’s. Der zwischen dem Dorf Dillweed und dem Fluss gelegene Hof hatte sich dem organischen Anbau von »pestizidfreiem Gemüse« verschrieben, das im General Store zusammen mit frischem Brot, Bergkäse und sehr gutem Kaffee verkauft wurde. Und genau diesen Kaffee hatte Gurney dringend nötig, als er auf einem der nicht geteerten Parkplätze vor der durchhängenden Eingangsveranda des Ladens anhielt.
In dem hohen Raum stand eine Reihe dampfender Kaffeekannen, auf die Gurney sogleich zusteuerte. Mit zufriedenem Lächeln sog er das Aroma ein, als er sich einen Halbliterbecher einschenkte - besser als Starbucks und nur halb so teuer.
Dummerweise fiel ihm beim Stichwort Starbucks die Art von
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