Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Verfahrens beherrscht und wortkarg und gab nichts von seinem verborgenen Mr. Hyde preis. Er wirkte eher wie ein deprimierter Automechaniker als wie ein Elternmörder und inzestuöser Polygamist.
Gurney musterte Piggert auf dem Monitor, und Piggert starrte zurück. Seit dem ersten Verhör hatte sich bei Gurney immer mehr der Eindruck verdichtet, dass das wesentliche Charakteristikum dieses Mannes ein krankhaft übertriebenes Bedürfnis war, seine Umgebung zu steuern. Menschen, auch Verwandte - vor allem Verwandte - waren
Teil dieser Umgebung, und es war entscheidend, dass sie taten, was er wollte. Zur Not musste er eben jemanden töten, um die Kontrolle zu behalten. Sex war zwar eine wichtige Triebfeder seines Handelns, doch auch dabei ging es mehr um Macht als um Lust.
Während er die teilnahmslosen Züge nach Spuren eines Dämons absuchte, wirbelte ein Windstoß trockene Blätter auf, die mit dem Geräusch eines federigen Besens über die Terrasse fegten und leise über die Glastür schabten. Das Rascheln des Laubs und das unregelmäßige Donnern störten ihn in seiner Konzentration. Eigentlich hatte ihm die Aussicht zugesagt, ein paar Stunden allein an dem Porträt weiterzuarbeiten, ohne von hochgezogenen Brauen und unangenehmen Fragen unterbrochen zu werden. Aber jetzt war er nicht bei der Sache. Er spähte in Piggerts schwere, dunkle Augen - kein wildes Funkeln wie im Blick von Charlie Manson, dieser Ikone für Sex und Gewalt der Boulevardpresse -, doch wieder lenkten ihn der Wind und der Donner ab. Jenseits der Berge blitzte es schwach am düsteren Himmel. Er merkte, dass ihm schon seit längerem eine Strophe aus einem von Mellerys Drohgedichten durch den Kopf spukte. Jetzt fiel es ihm wieder ein.
Du wirst geben, was du genommen,
was du gegeben hast, wirst du bekommen.
Auf den ersten Blick ein undurchdringliches Rätsel. Die Worte waren zu allgemein, hatten gleichzeitig zu viel und zu wenig Bedeutung; dennoch gingen sie ihm nicht aus dem Sinn.
Er öffnete die Schreibtischschublade und nahm die Briefe heraus, die er von Mellery erhalten hatte. Dann schaltete
er den Computer aus und schob die Tastatur zur Seite, um die Nachrichten in ihrer chronologischen Abfolge vor sich ausbreiten zu können.
Glaubst du an das Schicksal? Ich schon, denn ich dachte, dass ich dich nie wiedersehen werde - und dann warst du eines Tages da. Alles fiel mir wieder ein: wie du klingst, wie du dich bewegst, und vor allem wie du denkst. Wenn dich jemand auffordern würde, dir irgendeine Zahl zu denken, wüsste ich gleich, welche es wäre. Du glaubst mir nicht? Ich werde es dir beweisen. Denk dir irgendeine Zahl zwischen eins und tausend - die erste Zahl, die dir einfällt. Stell sie dir vor. Und jetzt zeige ich dir, wie gut ich deine Geheimnisse kenne. Mach den kleinen Umschlag auf.
Obwohl er das bereits getan hatte, prüfte er noch einmal sorgfältig den äußeren Umschlag und auch das Notizpapier, auf das die Nachricht geschrieben war, um sicherzugehen, dass es nicht das Geringste gab - nicht einmal ein Wasserzeichen -, was Mellery dazu veranlasst haben konnte, auf die Zahl sechshundertachtundfünfzig zu verfallen. Es gab nichts. Später konnte man noch exaktere Tests durchführen, doch fürs Erste musste er davon ausgehen, dass nicht einmal ein winziger Aufdruck existierte, der es dem Verfasser ermöglicht hätte, Mellerys Wahl zu beeinflussen.
Inhaltlich setzte sich die Nachricht aus mehreren Behauptungen zusammen, die Gurney auf einem gelben Notizblock auflistete:
1. Ich habe dich früher gekannt, aber den Kontakt zu dir verloren.
2. Vor kurzem bin ich dir wieder begegnet.
3. Ich erinnere mich an viel von dir.
4. Ich kann dir beweisen, dass ich deine Geheimnisse kenne, indem ich die erstbeste Zahl, die dir einfallen wird, aufschreibe und in den beigefügten Umschlag stecke.
Der Ton erschien ihm auf unheimliche Weise neckisch, und der Hinweis auf Mellerys »Geheimnisse« ließ sich als Drohung deuten, was durch die Geldforderung im kleineren Umschlag bekräftigt wurde.
658: Bist du schockiert, dass ich wusste, welche Zahl du wählen wirst? Wer kennt dich so gut? Wenn du eine Antwort darauf willst, musst du mir erst die 289,87 Dollar zurückzahlen, die es mich gekostet hat, dich zu finden. Sende diesen Betrag an:
P.O. Box 49449, Wycherly, Ct 61010.
Entweder in bar oder als Verrechnungsscheck.
Auszustellen auf X. Arybdis.
(Das war nicht immer mein Name.)
Abgesehen von der unerklärlichen Vorhersage der Zahl
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