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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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entgegentrat. Ein Psychopath, der sich X. Arybdis nannte.
    Natürlich konnte er auch falsch liegen. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine bestimmte Stimmung, vor allem am Abend und wenn er allein war, Überzeugungen in ihm geweckt hatte, die von den Fakten nicht gestützt wurden.
    Trotzdem … was war das nur mit diesem Namen? In welcher alten Erinnerungskiste wurde hier Staub aufgewirbelt?
    Er ging schon früh zu Bett, lange bevor Madeleine vom
Konzert zurückkehrte. Gleich morgen wollte er Mellery die Briefe zurückgeben und ihn dazu drängen, die Polizei zu alarmieren. Zu viel stand auf dem Spiel, zu greifbar war die Gefahr. Doch als er lag, fand er keine Ruhe. Seine Gedanken rasten dahin wie auf einer Rennbahn ohne Ausgang und Ziellinie. Diese Erfahrung war ihm nicht neu. Es war der Preis, den er dafür bezahlte, dass er sich so intensiv mit einer bestimmten Art von Fragestellungen befasste. Und wenn sein besessener Verstand erst auf diesem kreisförmigen Gleis gelandet war, gab es nur noch zwei Möglichkeiten. Er konnte die Sache laufen lassen, was unter Umständen drei oder vier Stunden dauerte, oder er musste sich gewaltsam aus diesem Strudel herausreißen und sich anziehen.
    Einige Minuten später trat er in Jeans und einem bequemen Baumwollpullover hinaus auf die Terrasse. Der Vollmond hinter dem bedeckten Himmel warf ein schwaches Licht, in dem auch die Scheune erkennbar war. Er beschloss, auf dem furchigen Wiesenweg in diese Richtung zu wandern.
    Hinter der Scheune lag der Weiher. Auf halbem Weg zögerte er, als er aus Richtung des Dorfs einen näher kommenden Wagen auf der Straße hörte. Weniger als einen Kilometer entfernt, schätzte er. In dieser stillen Ecke der Catskill Mountains war das vereinzelte Heulen der Kojoten das lauteste nächtliche Geräusch. Fahrzeuge waren schon aus großer Entfernung wahrzunehmen.
    Bald darauf fegten die Scheinwerfer von Madeleines Auto über das Gewirr verwelkter Goldruten am Wiesensaum. Sie bog zur Scheune ab, bremste auf dem knirschenden Kies und schaltete das Licht ab. Als sie ausgestiegen war, trat sie vorsichtig auf ihn zu, da sich ihre Augen noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt hatten.

    »Was machst du denn da?« Ihre Frage klang sanft und freundlich.
    »Ich konnte nicht schlafen. Zu viel im Kopf. Wollte um den Weiher spazieren.«
    »Es wird gleich regnen.« Leiser Donner unterstrich ihre Bemerkung.
    Er nickte.
    Sie trat neben ihn und atmete tief ein. »Was für ein wunderbarer Duft. Komm, gehen wir zusammen noch ein Stück.« Sie nahm ihn am Arm.
    Am Weiher verbreiterte sich der Weg zu einer gemähten Bahn. Irgendwo in den Wäldern erklang der Ruf einer Eule - genauer gesagt, dieser vertraute Laut, den sie einer Eule zugeschrieben hatten, als sie ihn im Sommer zum ersten Mal gehört hatten. Je öfter er an ihre Ohren drang, desto fester glaubten sie daran, dass es sich nur um eine Eule handeln konnte. Es lag in der Natur von Gurneys Intellekt zu erkennen, dass diese wachsende Überzeugung logisch betrachtet sinnlos war, aber ihm war auch klar, dass es Madeleine nur gelangweilt und geärgert hätte, wenn er sie darauf aufmerksam gemacht hätte. Also blieb er stumm, schon zufrieden, dass er wusste, was er in ihrer Gegenwart besser unerwähnt ließ. In einträchtigem Schweigen schlenderten sie zur anderen Seite des Weihers. Sie hatte Recht: Die Luft duftete wunderbar.
    Von Zeit zu Zeit erlebten sie solche Momente, Momente unbefangener Zuneigung und stiller Nähe, die ihn an die ersten Jahre ihrer Ehe erinnerten, die Jahre vor dem Unfall. »Der Unfall« - mit diesem dürren, allgemeinen Etikett hatte er das Ereignis versehen, um sein Herz vor dessen rasiermesserscharfen Stacheln zu schützen. Der Unfall - der Tod -, der die Sonne verdunkelt und ihre Ehe in eine Mischung aus Gewohnheiten, Pflichten, angespannter
Gemeinschaft und seltenen Augenblicken der Hoffnung verwandelt hatte. In diesen seltenen Momenten blitzte etwas zwischen ihnen auf, hell und klar wie ein Diamant, und erinnerte ihn daran, was früher gewesen war und vielleicht auch in Zukunft wieder möglich sein würde.
    »Ich habe das Gefühl, dass du immer mit irgendwas ringst.« Knapp über dem Ellbogen drückte sie mit den Fingern seinen Arm.
    Auch damit hatte sie Recht.
    »Wie war das Konzert?«, fragte er schließlich.
    »Die erste Hälfte Barock, wunderschön. Die zweite Hälfte zwanzigstes Jahrhundert, nicht so schön.«
    Er wollte ihr schon zustimmen, weil auch er keine besonders hohe Meinung

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