Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
dem Dritten eine eigene Verbindung hergestellt wird und die zwei
Signale danach zusammengefasst werden. Wahrscheinlich ist meine technische Erklärung ganz falsch, aber das Entscheidende ist: Wenn Charybdis sich heute Abend meldet, kann ich dich dazuschalten, damit du das Gespräch mithörst.«
»Gut. Ich bin auf jeden Fall zu Hause.«
»Prima, da bin ich dir wirklich dankbar.« Er lächelte wie ein Patient, dessen chronische Schmerzen für einen Moment nachgelassen haben.
Draußen auf dem Gelände ertönte der mächtige Messingklang einer Art Schiffsglocke. Mellery spähte auf seine schmale goldene Armbanduhr. »Ich muss mich auf den Nachmittagsvortrag vorbereiten.« Er stieß ein leises Seufzen aus.
»Zu welchem Thema?«
Mellery erhob sich aus seinem Ohrensessel und strich ein paar Falten aus seinem Kaschmirpullover. Mit einiger Mühe brachte er ein Lächeln zustande. »Der Wert der Ehrlichkeit.«
Das Wetter war noch immer stürmisch und kalt. Braunes Laub wirbelte über das Gras. Mellery hatte sich noch einmal bedankt und ihn daran erinnert, am Abend seinen Telefonanschluss freizuhalten. Bevor er endgültig verschwand, entschuldigte er sich für seine Eile und lud Gurney in letzter Minute ein, sich ein bisschen umzusehen. »Wenn du schon mal hier bist, kannst du dir doch einen Eindruck verschaffen.«
Gurney stand auf der eleganten Terrasse und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Er beschloss, den Vorschlag anzunehmen und durch die weite Gartenanlage auf einem Umweg zurück zum Parkplatz zu laufen. Auf einem moosigen Pfad gelangte er an der Rückseite des
Hauses zu einem saftig grünen Rasen, hinter dem sich ein Ahornwald sanft zum Tal hin absenkte. Eine niedrige Bruchsteinmauer bildete die Demarkationslinie zwischen Gras und Wald. Auf halber Höhe der Mauer waren eine Frau und zwei Männer offenbar mit Einpflanzen und Mulchen beschäftigt.
Als Gurney über den breiten Rasen auf sie zuschlenderte, erkannte er, dass die Männer mit Spaten junge Latinos waren und dass die Frau, die kniehohe grüne Stiefel und eine Arbeitsjacke trug, das Sagen hatte. Auf einem flachen Gartenwagen lagen mehrere Säcke mit verschiedenfarbigen Tulpenzwiebeln. Die Frau funkelte die Arbeiter ungeduldig an.
»Carlos! Roja, blanca, amarilla … roja, blanca, amarilla!« Dann wiederholte sie, ohne jemand bestimmten anzusprechen: »Rot, weiß, gelb … rot, weiß, gelb. Das kann doch nicht so schwer sein!«
Sie seufzte über die Begriffsstutzigkeit von Dienstboten, setzte aber ein gutmütiges Lächeln auf, als Gurney näher kam.
»Für mich ist eine blühende Blume der heilsamste Anblick auf der ganzen Welt«, verkündete sie mit dem schmallippigen Oberschichtakzent von Long Island. »Finden Sie nicht auch?«
Bevor er antworten konnte, streckte sie ihm die Hand hin. »Ich bin Caddy.«
»Dave Gurney.«
»Willkommen im Himmel auf Erden! Ich glaube, Sie habe ich noch nie hier gesehen.«
»Ich bin nur heute hier.«
»Wirklich?« Etwas in ihrem Ton schien eine Erklärung zu fordern.
»Ich bin ein Freund von Mark Mellery.«
Sie runzelte leicht die Stirn. »Dave Gurney, sagten Sie?«
»Genau.«
»Nun, er hat Ihren Namen bestimmt erwähnt, aber ich kann mich im Augenblick nicht erinnern. Kennen Sie Mark schon lange?«
»Seit dem College. Darf ich fragen, was Sie hier machen?«
»Was ich hier mache?« Erstaunt zuckten ihre Augenbrauen nach oben. »Ich lebe hier. Ich bin Caddy Mellery. Mark ist mein Mann.«
13
Kein Grund für Schuldgefühle
Obwohl es erst Mittag war, verbreiteten die dichter werdenden Wolken im eingeschlossenen Tal die Stimmung von winterlicher Abenddämmerung. Gurney stellte die Autoheizung an, um die Kälte aus seinen Händen zu vertreiben. Jedes Jahr wurden seine Fingergelenke empfindlicher und erinnerten ihn an die Arthritis seines Vaters. Er öffnete und schloss sie ums Lenkrad.
Genau die gleiche Geste.
Er erinnerte sich, wie er den schweigsamen, unzugänglichen Mann einmal gefragt hatte, ob ihm seine geschwollenen Knöchel Schmerzen bereiteten. »Das ist nur das Alter, da kann man nichts machen«, hatte sein Vater in einem Ton erwidert, der jede weitere Erörterung des Themas abschnitt.
Seine Gedanken drifteten zurück zu Caddy. Warum hatte ihm Mellery nichts von seiner neuen Frau erzählt? Wollte er nicht, dass er mit ihr redete? Und wenn er seine Frau unerwähnt ließ, hatte er dann vielleicht noch andere Dinge unerwähnt gelassen?
Und plötzlich fragte er sich durch eine obskure mentale
Weitere Kostenlose Bücher