Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
goss er sich kaltes Wasser ein und trank es mit Grübelpausen zwischen den Schlucken. Die Sache mit Sonya war emotional problematisch, aber der einzige Ausweg, der ihm einfiel, wäre gewesen, das Kunstprojekt mit den Verbrecherfotos aufzugeben, das die Grundlage seiner Verbindung zu ihrer Galerie darstellte, und dazu war er nicht bereit.
Mit einigem Abstand zu dem unerfreulichen Wortwechsel mit Madeleine fand er seine Unbeholfenheit und sein mangelndes Selbstvertrauen verwirrend. Es war merkwürdig, dass ein zutiefst rationaler Mann wie er sich so
hoffnungslos in Emotionen verheddern konnte. Aus den zahllosen Verhören mit Tatverdächtigen wusste er, dass die Ursache für diese Art von Verwirrung immer Gewissensbisse waren. Aber er hatte doch gar keinen Grund für Schuldgefühle!
Kein Grund für Schuldgefühle. Ah, da lag das Problem: die Absolutheit dieser Aussage. Vielleicht hatte er sich in jüngster Zeit nichts zuschulden kommen lassen - nichts Wesentliches, nichts, was ihm sofort eingefallen wäre -, doch wenn man den Zeitrahmen fünfzehn Jahre in die Vergangenheit ausdehnte, musste diese Unschuldsbekundung schmerzlich falsch klingen.
Er stellte das Glas in die Spüle und trocknete sich die Hände, ehe er zur Glastür trat und die graue Welt draußen betrachtete. Eine Welt zwischen Herbst und Winter. Schnee so fein wie Sand wehte über die Terrasse. In einem fünfzehn Jahre zurückreichenden Zeitrahmen konnte er kaum seine Unschuld beteuern, denn dies umfasste auch den Unfall. Als würde er auf eine schwärende Wunde drücken, um den Grad der Entzündung zu prüfen, zwang er sich, »den Unfall« durch die eindeutigen Worte zu ersetzen, die ihm so zu schaffen machten:
Der Tod unseres vierjährigen Sohns.
Er sprach die Worte ganz leise vor sich hin, es war kaum mehr als ein Hauch. Und es klang hohl und zerfressen, wie die Stimme eines anderen.
Die Gedanken und Gefühle, die von diesen Worten angestoßen wurden, konnte er einfach nicht ertragen, und so wählte er das nächstbeste Ablenkungsmanöver.
Er räusperte sich und wandte sich mit übertriebener Begeisterung an Madeleine: »Am besten wir kümmern uns gleich um den Traktor, bevor es dunkel wird.«
Madeleine hob den Kopf. Wenn sie die künstliche Munterkeit
seines Tons beunruhigend oder verräterisch fand, ließ sie sich zumindest nichts davon anmerken.
Gurney musste eine Stunde lang hieven, stoßen, reißen, ölen und zurechtrücken, um die Schneefräse anzukuppeln, und verbrachte die nächste Stunde damit, Scheite für den Holzherd zu hacken, während Madeleine das Abendessen zubereitete, das aus Kürbissuppe und geschmorten Schweinekoteletts in Apfelsoße bestand. Danach machten sie ein Feuer im Kamin, setzten sich in dem gemütlichen Wohnzimmer neben der Küche zusammen aufs Sofa und gaben sich der schläfrigen Ruhe hin, die auf harte Arbeit und gutes Essen folgt.
Wie gern hätte er daran geglaubt, dass diese kleinen Oasen des Friedens die Rückkehr zu der Beziehung erahnen ließen, die einmal zwischen ihnen bestanden hatte, dass die emotionalen Ausflüchte und Zusammenstöße der letzten Jahre nur vorübergehender Natur waren. Doch es fiel ihm schwer, diese Zuversicht aufrechtzuerhalten. Selbst jetzt wurde die zerbrechliche Hoffnung Stück für Stück von Gedanken verdrängt, auf die sich sein Polizistenverstand leichter konzentrieren konnte: Gedanken an den bevorstehenden Anruf von Charybdis und die besondere Technologie, dank der er das Gespräch mithören konnte.
»Der perfekte Abend für ein Feuer.« Madeleine lehnte sich sanft an ihn.
Lächelnd wandte er sein Augenmerk wieder den rotgelben Flammen und der weichen Wärme ihres Arms zu. Ihr Haar roch wunderbar. Ein Duft, in dem man sich verlieren konnte.
»Ja«, antwortete er, »perfekt.«
Er schloss die Augen in der Hoffnung, dass das Glück des Moments gegen die geistigen Energien wirken würde,
die ihn unausgesetzt dazu trieben, irgendwelche Rätsel zu lösen. Für Gurney war es paradoxerweise ein Kampf, nur ein klein bisschen Zufriedenheit zu empfinden. Er beneidete Madeleine um die starke Verbundenheit mit dem flüchtigen Augenblick und um die Freude, die ihr daraus erwuchs. Für ihn war das Leben in der Gegenwart immer ein Schwimmen gegen den Strom, da sein analytischer Verstand von Natur aus das Reich der Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten bevorzugte.
Er fragte sich, ob es Veranlagung oder eine erlernte Form der Flucht war. Wahrscheinlich beides in gegenseitiger
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