Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
später.
14
Entschlossen
Madeleine saß mit ihrer Stricktasche auf dem Sofa und war in eins von drei Projekten vertieft, die verschieden weit gediehen waren. Gurney hatte es sich daneben in einem Lehnsessel bequem gemacht und blätterte in dem sechshundertseitigen Benutzerhandbuch für sein Bildbearbeitungsprogramm, konnte sich aber nicht recht darauf konzentrieren. Die Scheite im Kamin waren bis zur Glut heruntergebrannt, aus der nur noch gelegentlich Flammen züngelten. Als das Telefon klingelte, hastete Gurney in sein Arbeitszimmer und nahm ab.
Mellerys Stimme war laut und nervös. »Dave?«
»Ich bin hier.«
»Er ist dran. Das Aufnahmegerät läuft. Ich schalte dich jetzt zu. Bist du bereit?«
»Los.«
Kurz darauf hörte Gurney eine seltsame Stimme, die mitten in einem Satz war.
»… eine Zeitlang weg. Aber du sollst wissen, wer ich bin.« Die Stimme wirkte hoch und angestrengt, der Sprechrhythmus unbeholfen und künstlich. Auch ein Akzent war dabei, der irgendwie ausländisch anmutete, aber nicht eindeutig zuzuordnen war, als würden die Worte absichtlich falsch ausgesprochen, um die Stimme zu verstellen. »Ich hab dir am Abend was hinterlassen. Hast du es schon?«
»Was soll ich haben?« Mellerys Ton war brüchig.
»Du hast es noch nicht? Es kommt sicher. Weißt du, wer ich bin?«
»Wer sind Sie?«
»Willst du das wirklich wissen?«
»Natürlich. Woher kenne ich Sie?«
»Die Zahl sechshundertachtundfünfzig hat dich an nichts erinnert?«
»Sie sagt mir überhaupt nichts.«
»Wirklich? Aber du hast sie dir ausgesucht - von allen Zahlen, die zur Wahl standen.«
»Wer sind Sie, verdammt?«
»Es gibt noch eine Zahl.«
»Was?«, entfuhr es Mellery voller Angst und Verzweiflung.
»Ich sagte, es gibt noch eine Zahl.« Die Stimme klang amüsiert, sadistisch.
»Ich verstehe nicht.«
»Denk dir irgendeine Zahl außer sechshundertachtundfünfzig.«
»Warum?«
»Denk dir eine Zahl außer sechshundertachtundfünfzig.«
»Na schön, in Ordnung. Ich hab mir eine Zahl gedacht.«
»Gut, wir machen Fortschritte. Und jetzt flüsterst du sie.«
»Wie bitte?«
»Du sollst die Zahl flüstern.«
»Flüstern?«
»Ja.«
» Neunzehn. « Mellerys Wispern war laut und krächzend.
Es wurde mit einem humorlosen Lachen quittiert. »Gut, sehr gut.«
»Wer sind Sie?«
»Das weißt du noch immer nicht? So viel Schmerz, und du hast keine Ahnung. Ich dachte mir schon, dass es so kommen wird. Ich hab dir was hinterlassen. Eine kleine Nachricht. Bist du sicher, dass du sie noch nicht hast?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Aber die Zahl neunzehn hast du gewusst.«
»Sie haben doch gesagt, ich soll mir eine Zahl denken.«
»Und es war die richtige Zahl, nicht wahr?«
»Ich versteh Sie nicht.«
»Wann hast du zuletzt in deinen Briefkasten geschaut?«
»Meinen Briefkasten? Keine Ahnung. Am Nachmittag wahrscheinlich.«
»Dann sieh lieber noch mal nach. Und vergiss nicht, ich seh dich im November, wenn nicht, dann im Dezember.« Mit einem leisen Klicken wurde die Verbindung unterbrochen.
»Hallo!«, rief Mellery. »Sind Sie noch dran? Sind Sie noch dran?« Als er nach einer kurzen Pause wieder sprach, klang er erschöpft. »Dave?«
»Hier«, antwortete Gurney. »Leg auf und ruf mich an, sobald du am Briefkasten warst.«
Kaum hatte Gurney das Gespräch beendet, als das Telefon erneut klingelte.
»Ja?«
»Dad?«
»Bitte?«
»Bist du das?«
»Kyle?«
»Genau. Geht’s dir gut?«
»Ja, aber ich bin gerade sehr beschäftigt.«
»Alles in Ordnung?«
»Ja, tut mir leid, dass ich so kurz angebunden bin. Ich warte auf einen dringenden Anruf, der in den nächsten ein, zwei Minuten kommt. Kann ich mich bei dir melden?«
»Kein Problem. Wollte dir nur das Neueste erzählen. Sachen, die passiert sind, Sachen, die ich mache. Wir haben schon lange nicht mehr miteinander geredet.«
»Ich ruf dich zurück, sobald ich kann.«
»Klar, okay.«
»Tut mir leid, danke. Bis bald.«
Gurney schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch. Mann, dass sich die Dinge immer so anhäufen mussten! Natürlich war es auch seine Schuld. Die Beziehung zu Kyle war ein eindeutig dysfunktionaler Bereich in seinem Leben, geprägt von Ausflüchten und Rechtfertigungen.
Kyle war das Produkt seiner ersten, kurzen Ehe mit Karen. Noch zweiundzwanzig Jahre nach der Scheidung beschlich Gurney bei der Erinnerung daran ein mulmiges Gefühl. All ihren Bekannten war sofort klar gewesen, dass sie nicht zusammenpassten, aber ein
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