Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
gegen Mitternacht ganz auf.
Während Gurney beim Samstagmorgenkaffee allmählich hochdämmerte, kroch die bleiche Sonnenscheibe über
den bewaldeten Kamm im Osten. Es war eine windstille Nacht gewesen, und alles draußen, von der Terrasse bis zum Scheunendach, war mit einer zehn Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt.
Er hatte nicht gut geschlafen. Stundenlang war er in einer Endlosschleife verbundener Sorgen gefangen gewesen. Einige davon, die sich jetzt bei Tageslicht auflösten, drehten sich um Sonya. In letzter Minute hatte er das geplante Treffen nach Geschäftsschluss verschoben, weil er sich einfach nicht sicher war, was dort passieren könnte und was er eigentlich wollte.
Wie schon seit einer Woche hatte er dem Teil des Zimmers den Rücken zugekehrt, in dem die weiß umschnürte Schachtel mit Dannys Zeichnungen auf dem Couchtisch stand. Er schlürfte seinen Kaffee und starrte hinaus auf die weiß bedeckte Wiese.
Beim Anblick von Schnee fiel ihm stets der Geruch von Schnee ein. Einem Impuls folgend trat er zur Glastür und öffnete sie. Die eiskalte Luft löste eine Kette von Erinnerungen aus: brusthoch zusammengeschaufelte Schneebänke an den Straßen, die Hände rot und schmerzend vom Zusammenpressen der Schneebälle, Eisstückchen in seinen wollenen Jackenaufschlägen, bis zum Boden hängende Baumäste, Adventskränze an Türen, menschenleere Straßen, blendende Helligkeit, wohin das Auge reichte.
Es war schon komisch mit der Vergangenheit - wie sie auf einen wartete, still, unsichtbar, fast als wäre sie nicht da. Man konnte beinahe glauben, dass sie verschwunden war, dass sie nicht mehr existierte. Doch dann schoss sie auf einmal wie ein Fasan aus dem Unterholz, mit einer Explosion von Klängen, Farben, Bewegungen, und war schockierend lebendig.
Er hatte das Bedürfnis, in den Schneegeruch einzutauchen.
Rasch schlüpfte er in die Jacke, die gleich neben der Tür hing, und trat hinaus. Eigentlich war der Schnee zu tief für die normalen Straßenschuhe, die er anhatte, aber er wollte sie jetzt nicht wechseln. Er marschierte ungefähr in die Richtung des Weihers und atmete mit geschlossenen Augen tief ein. Noch keine hundert Meter lagen hinter ihm, als er die Küchentür und kurz darauf Madeleines Stimme hörte, die ihm etwas zurief.
»David, komm schnell!«
Er wandte sich um und sah sie mit erschrockenem Gesicht in der Tür stehen. Er machte sofort kehrt.
»Was ist?«
»Beeil dich! Sie bringen es im Radio - Mark Mellery ist tot!«
»Was?«
»Mark Mellery, er ist tot. Gerade war es im Radio. Er wurde ermordet!« Sie verschwand nach drinnen.
»O Gott.« Gurney schnürte es die Brust zusammen. Die letzten Meter zum Haus rannte er und stürmte in die Küche, ohne die schneebedeckten Schuhe auszuziehen. »Wann ist das passiert?«
»Keine Ahnung. Heute Morgen, letzte Nacht, ich weiß es nicht. Das haben sie nicht gesagt.«
Er lauschte. Das Radio lief noch, aber der Sprecher war inzwischen bei einer anderen Meldung, in der es um den Bankrott eines Konzerns ging.
»Wie?«
»Das haben sie nicht gesagt. Nur dass es offenbar Mord war.«
»Sonst irgendwelche Informationen?«
»Nein. Doch. Etwas von dem Institut - wo es passiert ist. Am Mellery-Institut für spirituelle Erneuerung in Peony. Und dass die Polizei vor Ort ist.«
»Das ist alles?«
»Ich glaube schon. Wie schrecklich!«
Er nickte langsam. Seine Gedanken rasten.
»Was machst du jetzt?«, fragte sie.
Nach einer blitzschnellen Prüfung aller Optionen blieb nur eine übrig.
»Ich muss den Einsatzleiter über meine Verbindung zu Mellery informieren. Was danach passiert, liegt an ihm.«
Madeleine atmete tief ein, scheiterte aber in ihrem Bemühen um ein tapferes Lächeln.
Teil 2
Makabre Spiele
17
Reichlich Blut
Exakt um zehn Uhr rief Gurney beim Polizeirevier in Peony an, um Namen, Adresse, Telefonnummer und eine Kurzzusammenfassung seines Kontakts mit dem Opfer durchzugeben. Sergeant Burkholtz, der mit ihm telefonierte, versprach ihm, die Informationen an das State Police Bureau of Criminal Investigation weiterzureichen, das den Fall übernommen hatte.
Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass man sich irgendwann in den nächsten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden bei ihm melden würde, und so war er ziemlich erstaunt, als der Anruf schon nach zehn Minuten eintraf. Die Stimme kam ihm merkwürdig vertraut vor, er konnte sie aber nicht gleich zuordnen, zumal der Mann seinen Namen nicht nannte.
»Mr. Gurney, ich bin der
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