Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
eben Zeit.«
Es klickte, und Sonyas atemlose Stimme meldete sich.
»David, ich bin hier. Ich konnte nicht ans Telefon, aber ich hab deine Nachricht gehört. Und ich versteh natürlich, dass du es perfekt hinkriegen willst. Aber es wäre wirklich super, wenn du es bis Samstag bringen könntest. Am Sonntag ist ein Festival, da kommen viele Leute in die Galerie.«
»Ich probier’s. Aber es kann spät werden.«
»Wunderbar! Ich schließe um sechs, aber danach arbeite ich noch eine Stunde. Wenn du dann kommst, haben wir noch Zeit zum Reden.«
Wieder einmal fiel ihm auf, dass Sonyas Stimme alles klingen lassen konnte wie ein erotisches Angebot. Natürlich war ihm klar, dass auf seiner Seite viel zu viel Fantasie
und Empfänglichkeit im Spiel war. Und dass er sich verdammt albern benahm.
»Sechs Uhr passt.« Als er sich mit diesen Worten verabschiedet hatte, kam ihm in den Sinn, dass Sonyas Büro mit den geräumigen Sofas und weichen Teppichen eher einem Boudoir glich als einem Arbeitsplatz.
Er legte das Telefon zurück ins Handschuhfach und spähte hinaus ins grasige Tal. Wie gewöhnlich hatte Sonyas Stimme seine rationalen Überlegungen unterbrochen, und sein Verstand schoss wie eine Flipperkugel von Gedanke zu Gedanke: Sonyas zu gemütliches Büro, Madeleines Unbehagen, die Unmöglichkeit, dass jemand wissen konnte, welche Zahl sich ein anderer denken würde, Blut in der makellosen roten Farbe gemalter Rosen, unser Treffen ist abgemacht, denk dran, Mister Sechs-fünf-acht, Charybdis, das falsche Postfach, Mellerys Angst vor der Polizei, Peter Piggert, der inzestuöse Muttermörder, der charmante junge Justin, die reiche, alternde Caddy, Dr. Jekyll und Mr. Hyde, und so weiter, drunter und drüber, hin und her. Er ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter, lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und versuchte sich auf das Geräusch des Wassers im felsigen Bachbett zu konzentrieren.
Ein Klopfen gegen das geschlossene Fenster neben seinem Ohr ließ ihn hochschrecken. Er blickte in ein ausdrucksloses rechteckiges Gesicht unter der steifen, runden Krempe eines grauen Polizeihuts. Die Augen waren hinter einer verspiegelten Sonnenbrille verborgen. Gurney ließ das Fenster herunter.
»Alles in Ordnung, Sir?« Die Frage des Troopers klang eher bedrohlich als fürsorglich, die Anrede »Sir« eher nachlässig als höflich.
»Ja, danke. Ich wollte nur einen Moment die Augen schließen.« Er spähte auf die Armaturenuhr. Der Moment hatte eine Viertelstunde gedauert.
»Wohin sind Sie unterwegs, Sir?«
»Nach Walnut Crossing.«
»Aha. Haben Sie heute was getrunken, Sir?«
»Nein, Officer, keinen Tropfen.«
Mit einem Nicken trat der Mann zurück, um das Auto zu inspizieren. Den Mund hatte er verächtlich verzogen. Ansonsten zeigte er keine Regung. Offenbar glaubte er, dass Gurney log, und war sich sicher, diese Lüge bald aufdecken zu können. Mit übertriebener Bedächtigkeit schritt er hinter zum Heck, dann zur Beifahrerseite und zur Front, bis er wieder vor Gurneys Fenster stand. Nach langem, gewichtigem Schweigen ergriff er erneut das Wort. In seiner Stimme schwang eine unterschwellige Drohung mit, die mehr zu einem Drama von Harold Pinter gepasst hätte als zu einer routinemäßigen Fahrzeugüberprüfung.
»Ist Ihnen bekannt, dass Sie hier nicht parken dürfen?«
»Das war mir nicht klar«, antwortete Gurney ruhig. »Ich wollte nur ein oder zwei Minuten anhalten.«
»Kann ich Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere sehen?«
Gurney nahm sie aus der Brieftasche und reichte sie zum Fenster hinaus. Normalerweise wäre es ihm nicht eingefallen, in solchen Situationen ein Dokument vorzulegen, das seinen Stand als pensionierter Detective des New York Police Department und die damit einhergehenden Beziehungen belegte, doch als sich der Trooper abwandte, um zu seinem Streifenwagen zu gehen, drückte das eine so maßlose Arroganz und Feindseligkeit aus, dass er sich wohl auf eine längere Verzögerung gefasst
machen musste. Widerstrebend zog er eine weitere Karte aus der Brieftasche.
»Einen Moment, Officer. Das hier hilft Ihnen vielleicht auch weiter.«
Wachsam nahm der Mann den Ausweis entgegen. Dann bemerkte Gurney ein Zucken um die Mundwinkel, das keinerlei Freundlichkeit beinhaltete. Es wirkte eher wie eine Mischung aus Enttäuschung und Ärger. Desinteressiert reichte er Ausweis, Führerschein und Fahrzeugpapier durchs Fenster zurück.
»Einen schönen Tag noch, Sir«, sagte er in einem Ton,
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