Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Chefermittler des BCI bei dem Mordfall in Peony. Wie ich höre, haben Sie Informationen für uns.«
Gurney zögerte. Als er den Beamten schon bitten wollte, sich vorzustellen, wie es den Gepflogenheiten entsprach, weckte das Timbre der Stimme eine Erinnerung an ein Gesicht und den dazugehörigen Namen. Der Jack Hardwick, den er von der gemeinsamen Arbeit an einem sensationsträchtigen Fall im Gedächtnis behalten hatte, war ein lauter, obszön schimpfender, rotgesichtiger Kerl
mit einem vorzeitig weiß gewordenen Bürstenhaarschnitt und blassen Malamut-Augen. Ein gnadenloser Stichler, in dessen Gesellschaft sich eine halbe Stunde zu einem halben Tag dehnen konnte - wenn nicht gar zu einer halben Ewigkeit. Aber er war auch clever, hart, unermüdlich und pfiff auf politische Korrektheit.
»Hallo Jack.« Gurney ließ sich nichts von seiner Überraschung anmerken.
»Wie hast du… Scheiße! Jemand hat es dir verraten, verdammt! Wer?«
»Du hast eine einprägsame Stimme, Jack.«
»Von wegen einprägsame Stimme! Das ist doch schon viele Jahre her!«
»Neun.« Die Verhaftung von Peter Possum Piggert war einer der größten Erfolge in Gurneys Karriere gewesen, der ihm auch die Beförderung zum begehrten Rang eines Detective First Grade eingebracht hatte. Deswegen konnte er sich genau an das Datum erinnern.
»Wer hat es dir gesagt?«
»Niemand hat mir was gesagt.«
»Quatsch!«
Gurney schwieg, als ihm einfiel, dass Hardwick immer das letzte Wort haben musste und auch nicht vor einem längeren hirnverbrannten Wortwechsel zurückschreckte, um das zu erreichen.
Nach langen drei Sekunden fuhr Hardwick in einem weniger streitlustigen Ton fort. »Neun verfluchte Jahre. Und plötzlich tauchst du aus dem Nichts auf, mitten in einer Sache, die zum sensationellsten Mordfall im Staat New York werden könnte, seitdem die untere Hälfte von Mrs. Piggert aus dem Fluss gefischt wurde. Was für ein gottverdammter Zufall!«
»Eigentlich war es die obere Hälfte, Jack.«
Nach einer kurzen Pause dröhnte das brüllende Gelächter aus dem Telefon, das Hardwicks Markenzeichen war. »Ah«, rief er schließlich ganz außer Atem. »Davey, Davey, Davey. Immer noch der alte Pedant.«
Gurney räusperte sich. »Kannst du mir sagen, wie Mark Mellery gestorben ist?«
Hardwick zauderte, gefangen in dem unsicheren Terrain zwischen Bekanntschaft und Vorschrift, auf dem sich Polizisten in ihrem Leben so oft bewegten und wo sie sich auch die meisten Magengeschwüre einhandelten. Schließlich entschied er sich für die volle Wahrheit. Aber wohl nicht, weil es erforderlich war - Gurney hatte keine offizielle Funktion in dem Fall und daher auch keinerlei Anspruch auf Informationen -, sondern weil er das Grausige daran genoss. »Jemand hat ihm mit einer zerbrochenen Flasche die Kehle aufgeschlitzt.«
Gurney ächzte wie von einem Boxhieb auf den Solarplexus. Nach dieser ersten Reaktion übernahm jedoch sofort die berufliche Routine das Ruder. Mit Hardwicks Antwort war eines der losen Puzzleteilchen in Gurneys Kopf an seinem Platz eingerastet.
»War es zufällig eine Whiskeyflasche?«
»Scheiße, woher weißt du das?« In diesen sechs Worten wechselte Hardwicks Ton von Staunen zu Anklage.
»Eine lange Geschichte. Soll ich vorbeischauen?«
»Keine schlechte Idee.«
Die Sonne, die am Morgen noch als kühle Scheibe durch einen grauen Schleier aus Winterwolken geschimmert hatte, wurde inzwischen völlig verdeckt von einem unregelmäßig bleiernen Himmel. Das schattenlose Licht wirkte unheimlich: das Gesicht eines kalten Universums, gleichgültig wie Eis.
Gurney empfand seinen Gedankengang als peinlich und überspannt und schob ihn hastig beiseite, als er hinter der Schlange von Polizeifahrzeugen bremste, die kreuz und quer auf der schneebedeckten Straße vor dem Mellery-Institut für spirituelle Erneuerung parkten. Die meisten trugen die blaugelben Abzeichen der New York State Police, unter anderem ein Spezialwagen des forensischen Labors. Aber auch zwei weiße Autos des Sheriff’s Department und zwei grüne Streifenwagen der Polizei von Peony standen da. Gurney musste an Mellerys Witz über das Schwulenkabarett und an seinen Gesichtausdruck dabei denken.
Von den Asternbeeten zwischen den Fahrzeugen und der Steinmauer war nach dem harten Wintereinbruch nur ein Gestrüpp brauner Stängel übrig geblieben, an denen merkwürdige Kugelblüten aus Schnee hingen. Er stieg aus und steuerte auf den Eingang zu. Am offenen Tor wachte ein Trooper in
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