Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
war nur eine ganz allgemeine Bemerkung. Dein Kumpel war natürlich eine Ausnahme.«
Hardwick ging ihm unter die Haut wie ein scharfer Splitter. »Er war nicht mein Kumpel.«
»Deiner Nachricht, die mir die Polizei in Peony freundlicherweise weitergeleitet hat, habe ich entnommen, dass eure Bekanntschaft weit zurückreicht.«
»Wir waren gemeinsam am College, und danach hatten wir vierundzwanzig Jahre keinen Kontakt. Vor zwei Wochen hab ich eine E-Mail von ihm bekommen.«
»Worum ging’s da?«
»Briefe, die er mit der Post erhalten hatte. Er war beunruhigt.«
»Was für Briefe?«
»Überwiegend Gedichte. Gedichte, die wie Drohungen klingen.«
Das machte Hardwick zum ersten Mal nachdenklich. »Was wollte er von dir?«
»Meinen Rat.«
»Und welchen Rat hast du ihm gegeben?«
»Dass er zur Polizei gehen soll.«
»Was er aber nicht gemacht hat.«
Der Sarkasmus ärgerte Gurney, aber er beherrschte sich.
»Wir haben auch ein Gedicht«, sagte Hardwick.
»Wie meinst du das?«
»Ein Gedicht auf einem Blatt Papier, das mit einem Stein beschwert auf dem Toten lag. Alles sehr ordentlich.«
»Er ist sehr präzise. Ein Perfektionist.«
»Wer?«
»Der Mörder. Möglicherweise auch psychisch gestört, auf jeden Fall ein Perfektionist.«
Hardwick starrte Gurney gespannt an. Die spöttische Haltung war fürs Erste verschwunden. »Bevor wir weiterreden, möchte ich erfahren, woher du von der zerbrochenen Flasche gewusst hast.«
»Reine Spekulation.«
»Reine Spekulation, dass es eine Whiskeyflasche war?«
»Und zwar die Marke Four Roses.« Zufrieden registrierte Gurney Hardwicks große Augen.
»Erklär mir, woher du das weißt.«
»Eine Vermutung, ausgehend von Hinweisen in den Gedichten. Wenn du sie liest, wirst du es verstehen.« Um der Frage zuvorzukommen, die sich im Gesicht seines Gegenübers abzeichnete, setzte Gurney hinzu: »Die Gedichte und zwei andere Nachrichten findest du in der obersten Schublade des Schreibtischs im Arbeitszimmer. Dort hat Mellery sie zumindest hingelegt, als ich zum letzten Mal hier war. Das ist der Raum mit dem großen Kamin.«
Hardwick gaffte ihn noch immer an, als könnte er damit ein wichtiges Problem lösen. »Komm mit«, sagte er schließlich. »Ich will dir was zeigen.«
In völlig untypischem Schweigen schritt er voran zum Parkplatz zwischen der großen Scheune und der öffentlichen Straße und stoppte an der Verbindung zur Auffahrt. Dort begann ein Korridor aus gelbem Absperrband.
»Das ist die der Straße nächstgelegene Stelle, wo wir Fußspuren erkennen können, die wir dem Täter zuordnen. Straße und Auffahrt wurden geräumt, nachdem der Schneefall um zwei Uhr morgens aufgehört hatte. Wir wissen nicht, ob der Täter das Grundstück vor oder nach dem Räumen betreten hat. Wenn davor, sind alle Spuren auf der Straße oder auf der Auffahrt von dem Schneepflug zerstört worden. Wenn danach, hat er keine Spuren hinterlassen. Aber von der Stelle hier, um die Rückseite
der Scheune, zur Terrasse, über die offene Fläche zum Wald und durch den Wald bis zu einem Kieferngestrüpp in der Nähe der Thornbush Lane sind die Spuren klar zu erkennen.«
»Er hat sich nicht bemüht, sie zu verbergen?«
»Nein.« Hardwick klang bedrückt. »Überhaupt nicht. Außer, mir ist was entgangen.«
Gurney schaute ihn fragend an. »Und wo liegt das Problem?«
»Das darfst du dir selbst anschauen.«
Sie marschierten an dem abgesperrten Korridor entlang und folgten den Spuren zur Rückseite der Scheune. Die scharf in den ansonsten makellosen Schneebelag gegrabenen Abdrücke stammten von Wanderstiefeln - Gurney schätzte sie auf Größe vierundvierzig oder fünfundvierzig, extrabreit. Wer hier auch in den frühen Morgenstunden marschiert war, es hatte ihn nicht gekümmert, ob man seinen Weg später nachvollziehen konnte.
Hinter der Scheune bemerkte Gurney einen breiteren abgesperrten Bereich. Ein Polizeifotograf knipste mit einer hochauflösenden Kamera, und als Nächster wartete bereits ein Kriminaltechniker in weißem Schutzanzug und Haarhaube mit seinem Spurensicherungskoffer. Jede Aufnahme wurde mindestens zweimal gemacht - mit und ohne Maß im Rahmen, um die Größe anzuzeigen - und jeder Gegenstand mit verschiedenen Abständen abgelichtet - weit entfernt, um die Position im Vergleich zu anderen Objekten zu veranschaulichen, normal, um den Gegenstand selbst darzustellen, und aus großer Nähe, um Details zu erfassen.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand ein Gartenklappstuhl der
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