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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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frisch gestärkter Uniform, der eine paramilitärisch finstere Miene zur Schau stellte. Er war ein oder zwei Jahre jünger als sein Sohn, wie Gurney merkwürdig berührt erkannte.
    »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Die Worte waren höflich, der Blick nicht.
    »Ich heiße Gurney. Ich bin mit Jack Hardwick verabredet.«
    Bei beiden Namen blinzelte der junge Mann. Sein Ausdruck ließ darauf schließen, dass er zumindest bei einem von ihnen Sodbrennen bekam.
    »Warten Sie kurz.« Er nahm ein Walkie-Talkie vom Gürtel. »Man wird sie reinführen.«
    Drei Minuten später erschien Gurneys Eskorte, ein BCI-Ermittler, der sich anscheinend alle Mühe gab, wie Tom Cruise auszusehen. Trotz der Kälte trug er nur eine offene
schwarze Windjacke über einem schwarzen T-Shirt und Jeans. Da Gurney die strenge Kleiderordnung bei der State Police kannte, vermutete er, dass der Beamte direkt aus der Freizeit oder von einer verdeckten Aktion zum Tatort gerufen worden war. Die unter der Jacke erkennbare Neun-millimeter-Glock in einem mattschwarzen Schulterhalfter schien zugleich Ausdruck einer Haltung und Berufswerkzeug.
    »Detective Gurney?«
    »Im Ruhestand.« Gurneys Worte klangen, als wollte er seinen Titel mit einem Sternchen versehen.
    »Ach?« Der Cruise-Klon gab sich desinteressiert. »Schön für Sie. Kommen Sie mit.«
    Als Gurney seinem Führer auf dem Pfad um das Hauptgebäude zum Wohnhaus folgte, fiel ihm auf, wie sich der Ort durch die zehn Zentimeter hohe Schneeschicht verändert hatte. Eine schlichte Fläche war entstanden, die ohne unwesentliche Details auskam. Es war, als hätte er einen neu geschaffenen Planeten betreten - ein Gedanke, der wie ein Hohn auf die furchtbare Realität war. Sie umrundeten das alte Haus, in dem Mellery gelebt hatte, und hielten unvermittelt am Rand der schneebedeckten Terrasse.
    Es konnte kein Zweifel daran bestehen, wo er gestorben war. Im Schnee zeigte sich noch immer der Abdruck eines Körpers, und um die Kopf- und Schulterpartie dieses Abdrucks breitete sich ein riesiger Blutfleck aus. Es war nicht das erste Mal, dass Gurney diesen schockierenden Kontrast aus Rot und Weiß sah. Die unauslöschliche Erinnerung stammte vom Weihnachtsmorgen seines ersten Berufsjahrs. Ein alkoholkranker Polizist, dessen Frau ihn aus dem Haus ausgesperrt hatte, hatte sich auf einer Schneebank sitzend ins Herz geschossen.

    Gurney verscheuchte das alte Bild aus dem Kopf und wandte sich mit gespannter Aufmerksamkeit dem Tatort zu.
    Im Schnee neben der Blutlache kniete ein Spezialist und besprühte eine Reihe von Fußspuren. Aus seiner Position konnte Gurney die Aufschrift der Dose nicht erkennen, er vermutete jedoch, dass es sich um Schneeabdruckwachs handelte, das Spuren im Schnee so lange stabilisierte, bis Abgüsse gemacht werden konnten. Abdrücke im Schnee waren äußerst fragil, boten aber bei sorgfältiger Behandlung einen außerordentlichen Detailreichtum. Obwohl er den Vorgang schon häufig beobachtet hatte, konnte er die ruhige Hand und intensive Konzentration des Experten nur bewundern.
    Fast die gesamte Terrasse und auch die Hintertür des Hauses war von einem unregelmäßigen Vieleck aus gelbem Absperrband umspannt. Zu beiden Seiten der Terrasse waren mit dem gleichen Band Korridore angelegt worden, um deutlich erkennbare Fußspuren zu schützen, die aus der Richtung der großen Scheune neben dem Haus kamen, zu der Stelle mit dem Blutfleck führten und dann über den schneebedeckten Rasen auf die Wälder zuliefen.
    In der offenen Hintertür stand ein Mitglied des Einsatzteams und betrachtete die Terrasse aus der Perspektive des Hauses. Gurney wusste genau, worum es dem Mann ging. An einem Tatort verbrachte man viel Zeit damit, dessen Stimmung aufzunehmen und vielleicht sogar einen Eindruck davon zu gewinnen, wie ihn das Opfer in den letzten Augenblicken vor seinem Tod gesehen hatte. Es gab klare, strikt beachtete Regeln für das Aufspüren und Sammeln von Beweismaterial: Blut, Waffen, Fingerabdrücke, Fußspuren, Haare, Fasern, Farbsplitter,
ortsfremde Mineral- und Pflanzenpartikel und so weiter. Daneben bestand aber auch ein grundlegendes Orientierungsproblem. Einfach ausgedrückt musste man im Hinblick auf das mögliche Geschehen unvoreingenommen bleiben, denn bei voreiligen Schlüssen übersah man unter Umständen Dinge, weil sie nicht in das vorgefasste Raster passten. Gleichzeitig musste man natürlich auch zumindest eine vage Hypothese entwickeln, um überhaupt eine Beweissuche zu ermöglichen.

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