Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
es zu bestehen und zu lösen galt. So war er. Und er konnte nicht einfach durch seine Pensionierung aufhören, so zu sein. Zumindest ging ihm das durch den Kopf, als er eine Stunde vor dem Morgengrauen endlich einschlief.
Hundert Kilometer östlich von Walnut Crossing und fünfzehn Kilometer hinter Peony gab die Zentrale der State Police, hoch oben auf einer Steilwand in Sichtweite des Hudson thronend, das Bild einer neu erbauten Festung ab. Der massive graue Stein und die schmalen Fenster schienen darauf berechnet, der Apokalypse zu trotzen. Gurney fragte sich, ob die Architektur von der 9/11-Hysterie beeinflusst war, die durchaus noch dümmere Projekte hervorgebracht hatte als uneinnehmbare Polizeireviere.
Drinnen verstärkte die Neonbeleuchtung noch die schroffe Anmutung der Metalldetektoren, versteckten
Kameras, der kugelsicheren Wachkabine und des polierten Betonbodens. Es gab ein Mikrofon, um mit dem Wachmann in seiner Kabine zu reden, die mit ihrer Monitorwand für die Sicherheitskameras eher einem Kontrollraum ähnelte. Die Lampen tauchten die harten Oberflächen in einen kalten Schein und verliehen dem Posten eine erschöpfte Blässe. Selbst sein farbloses Haar machte in dem unnatürlichen Licht einen kranken Eindruck. Er sah aus, als müsste er sich gleich übergeben.
Als Gurney sich zum Mikrofon beugte, konnte er nur mühsam den Impuls unterdrücken, den Wachmann nach seinem Befinden zu fragen. »David Gurney. Ich bin zu einer Besprechung mit Jack Hardwick bestellt.«
Der Posten schob einen befristeten Pass und einen Besucherschein durch einen schmalen Schlitz am unteren Ende der mächtigen Glaswand, die von der Decke bis zum Tresen zwischen ihnen reichte. Er griff nach dem Telefon, studierte eine mit Tesa an den Schaltertisch geklebte Liste, wählte einen vierstelligen Nebenanschluss und sagte etwas für Gurney Unhörbares, ehe er wieder auflegte.
Eine Minute darauf öffnete sich in einer Wand neben der Kabine eine graue Stahltür und brachte den Zivilbeamten zum Vorschein, der ihn tags zuvor im Institut herumeskortiert hatte. Ohne zu zeigen, ob er ihn wiedererkannt hatte, winkte er Gurney heran und führte ihn durch einen nichtssagenden grauen Korridor zu einer weiteren Stahltür.
Sie gelangten in einen großen Konferenzraum ohne Fenster - Letzteres diente wahrscheinlich zum Schutz vor herumfliegenden Glasscherben bei einem Terroranschlag. Gurney, der an leichter Klaustrophobie litt, hasste fensterlose Räume mitsamt den Architekten, die sich so etwas ausdachten.
Sein einsilbiger Führer steuerte zielstrebig auf die Kaffeemaschine
in der hinteren Ecke zu. Die meisten Plätze um den langen Konferenztisch waren bereits von Leuten reserviert, die noch nicht anwesend waren. Über vier der zehn Stühle hingen Jacken, und drei weitere Stühle waren nach vorn zum Tisch gekippt, um sie zu besetzen. Gurney schlüpfte aus seinem leichten Parka und legte ihn über die Lehne eines noch freien Stuhls.
Die Tür öffnete sich, und Hardwick trat ein, gefolgt von einer rothaarigen Frau in geschlechtslosem Anzug, die ein Notebook und einen dicken Ordner trug, und dem anderen Tom-Cruise-Klon, der sich sofort zu seinem Kumpel bei der Kaffeemaschine gesellte. Die Frau ging zu einem unbesetzten Stuhl und legte ihre Sachen davor auf den Tisch. Mit einer merkwürdigen Mischung aus Vorfreude und Verachtung kam Hardwick zu Gurney.
»Mach dich auf was gefasst, mein Freund«, flüsterte er knarzend. »Unser frühreifer Bezirksstaatsanwalt, der jüngste in der Geschichte des Landkreises, beehrt uns mit seiner Anwesenheit.«
Wieder spürte Gurney die reflexhafte Feindseligkeit gegen Hardwick, die angesichts der ziellosen Bitterkeit des Mannes eigentlich völlig übertrieben war. Obwohl er dagegen ankämpfte, spannte er die Kiefermuskeln an, als er antwortete. »Ist seine Beteiligung bei so einer Sache nicht zu erwarten?«
»Ich hab nicht gesagt, dass ich es nicht erwartet habe«, zischte Hardwick. »Ich hab nur gesagt, du kannst dich auf was gefasst machen.« Er ließ den Blick kurz zu den drei nach vorn geneigten Stühlen an der Mitte des Tischs gleiten und verzog spöttisch die Lippen. »Dort thronen die drei Weisen.«
Unmittelbar nach seiner Bemerkung ging die Tür auf, und drei Männer schritten herein.
Hardwick identifizierte sie mit gedämpfter Stimme neben Gurneys Schulter. Angesichts seiner Fähigkeit, ohne Mundbewegung zu sprechen, hätte er bestimmt auch als Bauchredner Karriere machen können, überlegte
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