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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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ihr dichtes braunes Haar, das von der Parkakapuze zusammengedrückt worden war. Dann trat sie in die Speisekammer und kam kurz darauf wieder heraus. Ihr Blick wanderte über die Arbeitsplatten.
    »Wo hast du die Pekannüsse hingetan?«
    »Was?«
    »Hab ich dich nicht gebeten, Pekannüsse zu besorgen?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Vielleicht hab ich es vergessen. Oder hast du mich nicht gehört?«
    »Keine Ahnung.« Es fiel ihm schwer, das Thema in
seine aktuelle Geistesverfassung einzusortieren. »Ich kann morgen welche kaufen.«
    »Wo?«
    »Bei Abelard’s.«
    »Am Sonntag?«
    »Sonn … Ach so, da haben sie natürlich zu. Wozu brauchst du sie?«
    »Sie sind für die Nachspeise.«
    »Was für eine Nachspeise?«
    »Elizabeth macht den Salat und backt das Brot, Jan kocht das Chili, und ich bin für die Nachspeise zuständig.« Ihre Augen verdunkelten sich. »Hast du es vergessen?«
    »Sie kommen morgen zu uns?«
    »Genau.«
    »Um wie viel Uhr?«
    »Ist das ein Problem?«
    »Ich muss morgen Mittag beim Einsatzteam eine schriftliche Aussage abgeben.«
    »Am Sonntag?«
    »Es handelt sich immerhin um einen Mordfall.« Seine Stimme klang dumpf, aber hoffentlich nicht sarkastisch.
    Sie nickte. »Dann bist du also den ganzen Tag weg.«
    »Nicht den ganzen.«
    »Wie lange?«
    »Mein Gott, du weißt doch, wie diese Dinge laufen.«
    Die Trauer und der Zorn, die in ihren Augen miteinander stritten, verstörten Gurney mehr, als es eine Ohrfeige vermocht hätte.
    »Dann kommst du morgen also irgendwann nach Hause und bist vielleicht rechtzeitig zum Essen da oder vielleicht auch nicht«, fasste sie zusammen.
    »Ich muss eine schriftliche Aussage als Zeuge in einem
Mordfall abgeben. Das mache ich nicht freiwillig .« Er wurde schockierend laut und schleuderte ihr das letzte Wort entgegen. »Es gibt Dinge im Leben, die müssen wir eben machen. Ich bin gesetzlich dazu verpflichtet und kann es mir nicht aussuchen. Ich hab doch die verdammten Gesetze nicht geschrieben!«
    Sie musterte ihn mit einer Mattigkeit, die so plötzlich gekommen war wie seine Wut. »Du hast es also immer noch nicht begriffen.«
    »Was begriffen?«
    »Dein Verstand ist so auf Mord und Gewalt, Blut und Monster, Lügner und Psychopathen fixiert, dass für alles andere einfach kein Platz mehr bleibt.«

22
    Ein klares Bild
    Am Abend war er zwei Stunden damit beschäftigt, seine Aussage zu schreiben und zu überarbeiten. Darin schilderte er auf schlichte Weise - ohne Adjektive, Emotionen, Meinungsäußerungen - die Fakten seiner Bekanntschaft mit Mark Mellery: die oberflächliche Verbindung am College und die jüngsten Kontakte, angefangen bei der E-Mail, in der Mellery um ein Treffen gebeten hatte, bis zu seiner hartnäckigen Weigerung, die Polizei einzuschalten.
    Während der Arbeit an dem Dokument trank er zwei Becher starken Kaffee und schlief entsprechend schlecht. Ihm war kalt, er schwitzte, es juckte ihn, er hatte Durst, und er spürte ein flüchtiges Ziehen, das unerklärlicherweise von einem Bein zum anderen wanderte. Die nächtlichen Beschwerden boten eine bösartige Brutstätte für gequälte Gedanken, vor allem was den Schmerz in Madeleines Augen betraf.
    Er wusste, woher dieser Schmerz rührte. Sie klagte darüber, dass bei einem Zusammenstoß seiner Rollen im Leben der Detective immer den Ehemann verdrängte. Daran hatte sich auch nach seiner Pensionierung nichts geändert. Offensichtlich hatte sie darauf gehofft, ja vielleicht sogar daran geglaubt, dass es so kommen würde. Aber wie konnte er aufhören, der zu sein, der er war? Wie sehr
er sie auch liebte, wie sehr er auch mit ihr zusammen sein wollte, wie sehr ihm auch an ihrem Glück gelegen war - er konnte doch nicht zu jemandem werden, der er nicht war! Sein Verstand arbeitete auf eine bestimmte Weise außerordentlich gut, und die größte Befriedigung in seinem Leben hatte er aus der Anwendung dieser intellektuellen Fähigkeit gezogen. Er besaß eine herausragende Begabung für logisches Denken und eine äußerst sensible Antenne für Diskrepanzen. Diese Qualitäten machten ihn zu einem außerordentlichen Kriminalermittler. Und sie schufen auch ein Polster der Abstraktion, mit dessen Hilfe er einen erträglichen Abstand von den Schrecken seines Berufs wahren konnte. Andere Kollegen hatten ihre eigenen Polster: Alkohol, bedingungslose Solidarität, gefühlskalten Zynismus. Gurneys Schild war die Fähigkeit, Situationen als intellektuelle Herausforderungen und Verbrechen als Rätsel zu begreifen, die

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