Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
verließ er das Zimmer. Nach kurzem Zögern schloss sich ihm Sergeant Wigg an. Der Bezirksstaatsanwalt nahm den plötzlichen Aufbruch äußerlich gelassen hin.
Kurz darauf beugte er sich wieder zu Gurney. »Also, was sollten wir über das hinaus tun, was schon getan wird? Sie sehen die Situation offenbar anders als Rod.«
Gurney zuckte die Schultern. »Es kann nicht schaden, die Gäste genauer unter die Lupe zu nehmen. Das muss sowieso irgendwann passieren. Aber im Gegensatz zu Captain Rodriguez verspreche ich mir davon nicht unbedingt eine Verhaftung.«
»Also im Grunde Zeitverschwendung?«
»Es ist ein notwendiger Bestandteil des Ausschlussverfahrens. Ich kann mir eben nicht vorstellen, dass der Mörder unter den Gästen zu suchen ist. Der Captain hat die Bedeutung der Gelegenheit betont: dass es für den Mörder günstig war, sich auf dem Grundstück aufzuhalten. Aber mir erscheint das im Gegenteil eher ungünstig. Die Gefahr, beim Verlassen des Zimmers oder bei der Rückkehr gesehen zu werden, die vielen Sachen, die versteckt werden müssten. Wo hätte er den Gartenstuhl, die Stiefel, die Flasche, den Revolver aufbewahrt? Für so einen Menschen wären solche Risiken und Komplikationen nicht akzeptabel.«
Neugierig zog Kline die Augenbraue hoch.
Gurney fuhr fort. »Auf einer Persönlichkeitsskala von desorganisiert bis organisiert ist dieser Typ am äußersten organisierten Ende anzusiedeln. Er hat ein außerordentliches Augenmerk für Details.«
»Sie meinen Dinge wie die Erneuerung des Geflechts am Gartenstuhl, damit er ganz weiß und im Schnee nicht so gut zu sehen ist?«
»Ja. Außerdem bleibt er in schwierigen Situationen ganz kühl. Er ist nicht vom Tatort weggelaufen, sondern gegangen. Die Fußabdrücke von der Terrasse zum Wald sind so gemächlich wie bei einem Spaziergang.«
»Aber die rasenden Stiche mit der zerbrochenen Whiskeyflasche wirken nicht gerade kühl.«
»Wenn es in einer Bar passiert wäre, würde ich Ihnen Recht geben. Aber vergessen Sie nicht, dass die Flasche gewissenhaft vorbereitet wurde. Er hat sie sogar ausgewaschen und alle Fingerabdrücke abgewischt. Ich meine, der Schein von Raserei war genauso geplant wie alles andere.«
»Okay«, stimmte Kline schließlich zu. »Kühl, ruhig, organisiert. Was sonst noch?«
»Ein Perfektionist in seinen Mitteilungen. Belesen, mit einem Gespür für Sprache und Metrum. Ich weiß, dass ich mich damit weit aus dem Fenster lehne, und deswegen sage ich das auch nur unter uns: Ich finde, dass diese Gedichte etwas eigenartig Förmliches an sich haben; für mich riecht das nach einem Dünkel der ersten Generation.«
»Wovon zum Teufel reden Sie da eigentlich?«
»Das gebildete Kind ungebildeter Eltern, das unbedingt sein Anderssein beweisen will. Aber wie gesagt, das ist reine Spekulation, weit jenseits irgendwelcher triftiger Beweise.«
»Und sonst?«
»Nach außen hin freundlich, innerlich zerfressen von Hass.«
»Und Sie glauben nicht, dass es einer der Gäste ist?«
»Nein. Aus seiner Sicht würde der Nachteil des höheren Risikos den Vorteil größerer Nähe überwiegen.«
»Sie besitzen einen scharfen, logischen Verstand, Detective Gurney. Meinen Sie, dass auch der Mörder so logisch ist?«
»O ja. Er ist logisch und pathologisch. Und in beiden Punkten weit über dem Durchschnitt.«
28
Zurück am Tatort
Gurneys Heimfahrt führte durch Peony, daher entschied er sich für einen Zwischenstopp beim Institut.
Mit dem befristeten Ausweis, den er von Klines Sekretärin erhalten hatte, kam er ohne Fragen an dem Posten am Tor vorbei. Als Gurney die kalte Luft einatmete, fiel ihm auf, dass der Tag unheimliche Ähnlichkeit mit dem Morgen nach dem Mord hatte. Die Schneedecke, die in der Zwischenzeit zum Teil weggeschmolzen war, hatte sich wieder geschlossen. Die in den höheren Lagen der Catskills häufigen Schneegestöber waren zurückgekehrt und hatten die Landschaft in Weiß gehüllt.
Gurney beschloss, die Strecke des Mörders nachzugehen, in der Hoffnung, vielleicht auf irgendetwas zu stoßen, was ihm entgangen war. Er schritt die Auffahrt hinauf, durch den Parkplatz und um die Rückseite der Scheune, wo der Gartenstuhl entdeckt worden war. Er schaute sich um, um zu begreifen, weshalb sich der Täter diese Stelle zum Hinsetzen ausgesucht hatte. Doch seine Konzentration wurde von lautem Türenschlagen und einer schroffen, vertrauten Stimme unterbrochen.
»Verdammte Scheiße! Wir sollten einen Luftschlag anordnen und das ganze
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