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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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außerhalb des Dorfs gibt es ein Motel, ziemlich runtergekommen, vor allem Jäger verkehren dort. War aber in dieser Nacht leer. Sonst gibt es in einem Umkreis
von fünf Kilometern nur noch zwei Gasthöfe. Einer davon ist den Winter über geschlossen. In dem anderen war ein Zimmer in der Mordnacht belegt, wenn ich mich richtig erinnere. Ein Vogelbeobachter mit seiner Mutter.«
    »Vögel beobachten im November?«
    »Kam mir zuerst auch komisch vor. Hab mir also ein paar einschlägige Webseiten vorgenommen. Anscheinend stehen die ernsthaften Vogelbeobachter gerade auf den Winter: kein Laub an den Bäumen, bessere Sicht, viele Fasane, Eulen, Raufußhühner, Meisen und blablabla.«
    »Hast du persönlich mit den Leuten geredet?«
    »Blatt hat mit einem der Besitzer gesprochen - zwei Schwule mit komischen Namen, keine brauchbaren Informationen.«
    »Komische Namen?«
    »Ja, einer heißt Peachpit oder so ähnlich.«
    »Peachpit?«
    »Oder so ähnlich. Nein, jetzt fällt’s mir wieder ein: Plumstone. Paul Plumstone. Nicht zu fassen.«
    »Hat jemand mit den Vogelbeobachtern geredet?«
    »Ich glaube, sie waren schon weg, bevor Blatt vorbeigeschaut hat, aber darauf darfst du mich nicht festnageln.«
    »Niemand hat nachgeforscht?«
    »Verdammt noch mal! Was sollen die denn von dem Ganzen wissen? Wenn du den Peachpits einen Besuch abstatten willst, bitte, gern. Der Gasthof heißt The Laurels, vom Institut aus zweieinhalb Kilometer den Berg runter. Ich habe nur soundso viele Einsatzkräfte zur Verfügung, da kann ich nicht jeder Menschenseele nachjagen, die irgendwann durch Peony gekommen ist.«
    »Stimmt.«
    Gurneys Erwiderung war bestenfalls vage, aber sie schien Hardwick zu besänftigen, der auf einmal einen fast
herzlichen Ton anschlug. »Weil wir gerade von Einsatzkräften reden, ich muss wieder an die Arbeit. Was wolltest du hier gleich wieder?«
    »Ich dachte, wenn ich auf dem Gelände rumlaufe, komme ich vielleicht auf was.«
    »Ist das die Methode des Superstars vom NYPD? Das ist doch kläglich!«
    »Ich weiß, Jack, ich weiß. Aber im Moment fällt mir nichts Besseres ein.«
    Mit übertriebenem Kopfschütteln stapfte Hardwick zurück ins Haus.
    Gurney atmete den feuchten Schneegeruch ein, der wie immer einen Moment lang alle rationalen Gedanken verdrängte und starke Kindheitsgefühle in ihm weckte, für die er keine Worte hatte. Er marschierte über den weißen Rasen auf den Wald zu. Der Schneegeruch überflutete ihn mit Erinnerungen an Geschichten, die ihm sein Vater vorgelesen hatte, als er fünf oder sechs Jahre alt war, und die ihm lebhafter vor Augen standen als irgendeine Erinnerung aus seinem Erwachsenenleben. In diesen Geschichten ging es um Pioniere, Blockhütten in der Wildnis, Fährten im Wald, gute Indianer, schlechte Indianer, knackende Zweige, Mokassinabdrücke im Gras, den gebrochenen Stiel eines Farns, der den Weg des Feindes verriet, und die Schreie der Waldvögel, die einen echt, die anderen nachgeahmt von den Indianern, um sich geheime Dinge mitzuteilen. Es war seltsam, dass diese reichen Erinnerungen an die Geschichten seines Vaters die meisten Erinnerungen an den Mann selbst verdrängt hatten. Natürlich hatte sich sein Vater abgesehen vom Erzählen dieser Geschichten nie viel mit ihm abgegeben. Sein Vater arbeitete hauptsächlich und blieb für sich.
    Arbeitete und blieb für sich. Gurney musste sich eingestehen,
dass diese knappe Zusammenfassung sein eigenes Leben genauso treffend beschrieb wie das seines Vaters. Anscheinend bekamen die Mauern, die er gegen solche Vergleiche errichtet hatte, in letzter Zeit immer größere Risse. Zudem hatte er den Verdacht, dass er nicht nur allmählich wurde wie sein Vater, sondern dass diese Entwicklung schon längst abgeschlossen war. Arbeitete und blieb für sich. Wie klein und kalt sein Leben dadurch wirkte! Es war demütigend, wie viel Zeit auf Erden sich in einem so kurzen Satz erfassen ließ. Was für eine Art von Ehemann war er, wenn seine Kräfte so begrenzt waren? Und was für eine Art von Vater? Was für ein Vater kann so versunken sein in seine berufliche Tätigkeit, dass … Nein, das reichte jetzt.
    Der Route der inzwischen vom Schnee verdeckten Spuren folgend, wie er sie im Gedächtnis hatte, marschierte Gurney zum Wald. Als er das immergrüne Dickicht erreichte, wo die Fährte unerklärlicherweise abbrach, atmete er den Kiefernduft ein und lauschte der tiefen Stille des Ortes. Doch die Inspiration, die er erhofft hatte, stellte sich nicht ein.

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