Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Wirklichkeit hat er sie schon vor seinem Aufbruch hingehängt.«
»Das waren also nicht die Stiefel, von denen die Abdrücke stammten?«
»Nein, aber das wussten wir schon. Eine Labortechnikerin hat bei einem Stiefelprofil einen winzigen Unterschied zu den Abdrücken im Schnee entdeckt. Natürlich konnten wir bisher nichts damit anfangen. Aber zu dieser revidierten Fassung der Ereignisse passt es hervorragend.«
Eine Weile blieb Madeleine stumm, und für ihn war fast mit Händen zu greifen, wie sie das neue Szenario durchleuchtete und auf Schwachstellen abklopfte.
»Und nachdem er die Flasche weggeworfen hat, was dann?«
»Er läuft von der Terrasse zur Rückseite der Scheune, stellt den Gartenstuhl auf, verstreut davor eine Handvoll Zigarettenkippen, damit es aussieht, als hätte er dort vor dem Mord gesessen. Er zieht den Tyvekoverall und die Latexhandschuhe aus, schlüpft in seinen Parka und macht sich im Schutz der Scheune auf den Weg zur Filchers Brook Road - die Abdrücke immer verkehrt herum. Die Straße ist geräumt, er hinterlässt also keine Spuren, während er zu seinem Auto an der Thornbush Lane oder hinunter ins Dorf läuft.«
»Hat die Polizei von Peony auf dem Weg zum Institut jemanden gesehen?«
»Anscheinend nicht, aber er kann sich natürlich leicht im Wald versteckt haben. Oder …« Nachdenklich hielt er inne.
»Oder …?«
»Vielleicht nicht die wahrscheinlichste Möglichkeit, aber ich habe gehört, dass es am Berg einen Gasthof gibt, den die Polizei bisher nur flüchtig überprüft hat. Klingt bizarr, aber vielleicht ist der Mörder, nachdem er seinem Opfer fast den Kopf abgehackt hat, einfach zurück zu seinem gemütlichen kleinen Quartier geschlendert.«
Mehrere Minuten lagen sie schweigend nebeneinander. Gurneys Gedanken rasten fieberhaft zwischen den Scharnierstellen seiner Rekonstruktion des Verbrechens hin und her. Als er sich sicher war, dass die Theorie keine größeren Löcher hatte, fragte er Madeleine nach ihrer Meinung.
»Der perfekte Gegner«, antwortete sie.
»Was?«
»Der perfekte Gegner.«
»Und das heißt?«
»Du liebst doch Rätsel. Er auch. Eine Hochzeit im Himmel.«
»Oder in der Hölle?«
»Kommt aufs Gleiche raus. Übrigens, irgendwas stimmt mit diesen Nachrichten nicht.«
»Mit welchen Nachrichten …?«
Madeleine hatte eine Art, durch eine Kette von Assoziationen zu springen, bei der er manchmal nicht mithalten konnte.
»Die Briefe des Mörders an Mellery, die du mir gezeigt hast. Die ersten zwei und dann die Gedichte. Ich habe versucht, mich genau daran zu erinnern.«
»Und?«
»Es ist mir sehr schwergefallen, obwohl ich ein gutes
Gedächtnis habe. Dann habe ich den Grund erkannt. Es steht nichts Reales drin.«
»Wie meinst du das?«
»Nichts Konkretes. Weder was Mellery getan hat, noch wem Schaden zugefügt wurde. Warum so vage? Keine Namen, Daten, Orte, keine Verweise auf etwas Handfestes. Seltsam, findest du nicht?«
»Die Zahlen sechshundertachtundfünfzig und neunzehn waren ziemlich konkret.«
»Aber sie haben Mellery nichts gesagt, abgesehen von der Tatsache, dass sie ihm eingefallen sind. Und das muss ein Trick gewesen sein.«
»Wenn es einer war, dann bin ich bis jetzt nicht dahintergekommen.«
»Aber du wirst es rausfinden. Du verstehst was davon, Zusammenhänge herzustellen.« Sie gähnte. »Da kann dir keiner das Wasser reichen.« Sie sagte es ohne Ironie.
Kurz entspannte er sich in der Wärme ihres Lobs, dann begann sein Kopf wieder rastlos zu arbeiten, um die Formulierungen in den Briefen des Mörders im Licht von Madeleines Beobachtung zu durchforsten.
»Jedenfalls waren sie so konkret, dass sie Mellery eine Scheißangst eingejagt haben.«
Sie seufzte schläfrig. »Oder so wenig konkret.«
»Was willst du damit sagen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht gab es gar kein konkretes Ereignis, das er hätte erwähnen können.«
»Aber wenn Mellery nichts getan hat, warum wurde er dann ermordet?«
Sie gab einen leisen Laut von sich, der wohl einem Achselzucken entsprach. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mit diesen Nachrichten was nicht stimmt. So, und jetzt schlafen wir weiter.«
30
Emerald Cottage
Als er im Morgengrauen erwachte, fühlte er sich besser als seit Monaten. Möglicherweise war es übertriebene Zuversicht, aber die Aufklärung des Stiefelrätsels wirkte befreiend auf ihn, fast als wäre damit der erste Dominostein gefallen. So war er guter Laune, als er der aufgehenden Sonne entgegenfuhr, um dem Gasthof an der
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