Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Dutzend Verletzungen an der gleichen Körperstelle.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Hängt ganz davon ab. Ich dachte, es könnte uns beiden weiterhelfen, wenn Sie einen Tag herkommen, sich den Tatort anschauen, bei der Vernehmung der Witwe dabei sind und Fragen stellen. Vielleicht macht es klick.«
Das war natürlich sehr weit hergeholt. Spekulativer als so manche dürftige Spur, der er in seiner Zeit beim NYPD vergeblich nachgejagt war. Aber Dave Gurney war nun
einmal so gestrickt, dass er keine Möglichkeit ignorieren konnte, auch wenn sie noch so klein war.
So verabredete er sich für den nächsten Tag mit Detective Clamm in der Bronx.
Teil 3
Wieder am Anfang
32
Der Tag der Ernte ist nah
Der junge Mann lehnte sich tief in die angenehm weichen Kissen am Kopfbrett und lächelte friedlich in den Bildschirm seines Notebooks.
»Wo ist der kleine Dickie Duck?«
»Er sitzt in seinem Heiabett Und spießt die Bösen aufs Bajonett.«
»Schreibst du ein Gedicht?«
»Ja, Mutter.«
»Lies es mir vor.«
»Es ist noch nicht fertig.«
»Lies es mir vor«, wiederholte sie, als hätte sie vergessen, dass sie ihn schon dazu aufgefordert hatte.
»Es ist noch nicht gut, es fehlt noch was.« Er rückte den Monitor zurecht.
»Du hast so eine schöne Stimme.« Abwesend berührte sie die blonden Locken ihrer Perücke.
Er schloss kurz die Augen. Dann leckte er sich leicht über die Lippen, als wollte er Flöte spielen. Er sprach in halb geflüstertem Singsang.
Das ist es, was ich am liebsten hab:
Die Kugel, die alles, was war, revidiert,
Das Blut, das sich über den Boden verliert,
Das schöne, stille, kühle Grab;
Aug um Auge, Zahn um Zahn,
Das Ende von allem, was damals begann.
Doch alles verblasst, was bisher geschah:
Seid wachsam - der Tag der Ernte ist nah.
Seufzend rümpfte er die Nase. »Das Metrum stimmt nicht.«
Die alte Frau nickte in heiterem Unverständnis und fragte mit koketter Kleinmädchenstimme: »Was wird mein kleiner Dickie machen?«
Er war versucht, ihr den Tag der Ernte in leuchtenden Farben zu schildern. Der Tod aller Bösen. Es war so brillant, so aufregend, so … befriedigend! Aber er war auch stolz auf seinen Realitätssinn und kannte die Grenzen seiner Mutter. Er wusste, dass ihre Fragen keine klare Antwort erforderten, dass sie sie meistens vergaß, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Für sie waren seine Worte in erster Linie Klänge, die sie mochte und die sie besänftigend fand. Er konnte irgendwas sagen - bis zehn zählen, einen Kinderreim zitieren. Es spielte überhaupt keine Rolle, solange er mit Gefühl und Rhythmus sprach. Er bemühte sich immer um einen vollen, singenden Ton, denn es war ihm ein Bedürfnis, sie zu erfreuen.
33
Eine schlimme Nacht
Hin und wieder hatte Gurney einen qualvollen Traum, der ihm wie das Herz seiner Trauer erschien. In diesen Träumen erkannte er mit einer nicht in Worte zu fassenden Klarheit, dass die Quelle der Trauer Verlust war und dass nichts so schmerzhaft war wie der Verlust der Liebe.
In der jüngsten, vignettenhaften Version des Traums trug sein Vater Arbeitskleidung wie vor vierzig Jahren und sah auch sonst genau wie damals aus. Unscheinbare beige Jacke und graue Hose, verblassende Sommersprossen an den großen Händen und auf seiner runden, hohen Stirn, das spöttische Funkeln in seinen Augen, das einem Geschehen galt, das sich anderswo abspielte, die Rastlosigkeit, die andeutete, dass er wegwollte, an jedem anderen Ort sein wollte, nur nicht da, wo er gerade war, die Wortkargheit, mit der er so viel Unzufriedenheit zum Ausdruck brachte - all diese vergrabenen Bilder erwachten in einer Szene zum Leben, die kaum eine Minute dauerte. Und dann wurde Gurney zum Kind, das die abweisende Gestalt flehend anstarrte und sie mit heißen Tränen im Gesicht bat zu bleiben. Er weinte mit der Intensität des Traums, so wie er es im Beisein seines Vaters sicher nie getan hatte. Dann wachte er plötzlich auf, die Wangen tränennass und das Herz erfüllt von Schmerz.
Er war versucht, Madeleine zu wecken, ihr von dem Traum zu erzählen und ihr seine Tränen zu zeigen. Aber es hatte nichts mit ihr zu tun. Sie hatte seinen Vater kaum gekannt. Und schließlich waren Träume nur Träume. Letztlich hatten sie nichts zu bedeuten. Stattdessen überlegte er, welcher Wochentag es war. Donnerstag. Mit diesem Gedanken durchlief seine geistige Landschaft den schnellen Wandel zum Praktischen, der wie gewohnt alle Reste einer schlimmen Nacht verscheuchte
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