Die Hassliste: Roman (German Edition)
ganzen Bücher da gekauft?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ein paar. Ein paar hab ich mir auch selbst gekauft. Die meisten stammen von einer Bibliothekarin, die mir ziemlich viel geholfen hat in der Zeit. Wahrscheinlich hab ich ihr leidgetan oder so.«
Ich ließ
Othello
wieder in die Kiste fallen, wühlte darin herum und zog
Macbeth
raus. »Erzähl mir was über das hier«, sagte ich und er tat es. Der Joystick blieb unberührt auf dem Boden neben dem Bett liegen.
Meine ersten Tage im Krankenhaus verbrachte ich fast ausschließlich damit, mich an diesen Tag zu erinnern. Ich kramte so lange in meinem Kopf herum, bis ich auch die kleinsten Details wieder im Sinn hatte. Das Laken auf seinem Bett war rot gewesen. Das Kissen hatte keinen Bezug gehabt. Oben ganz am Rand seiner Kommode stand ein gerahmtes Foto von einer blonden Frau – seiner Mutter. Über uns hörte man die Toilettenspülung rauschen, während wir über
König Lear
redeten. Tritte knarrten über unseren Köpfen, als seine Mutter vom Schlafzimmer ins Bad und in die Küche ging. Jede Einzelheit wollte ich behalten. Je intensiver ich mich an diese Einzelheiten erinnerte, desto unbegreiflicher fand ich, was sie über Nick in den Nachrichten sagten, die ich heimlich und fast schuldbewusst anschaute, wenn am Abend alle nach Hause gegangen waren und ich allein war.
Wenn ich mich gerade nicht an den Tag in Nicks Zimmer erinnerte, versuchte ich mir zurechtzureimen, was in der Cafeteria passiert war – was mir aus verschiedenen Gründen ziemlich schwerfiel.
Zum einen war ich in diesen beiden Tagen die meiste Zeit über komplett zugedröhnt von Schmerzmitteln. Man sollte meinen, dass der Schmerz, den eine Schussverletzungverursacht, in dem Moment am schlimmsten wäre, in dem es passiert, aber seltsamerweise ist es ganz anders. Ehrlich gesagt kann ich mich gar nicht erinnern, dass ich in dem Moment überhaupt irgendwas gespürt habe. Angst vielleicht. Ein eigenartig schweres Gefühl, irgendwas in der Art. Aber keinen Schmerz. Die echten Schmerzen fingen erst am nächsten Tag an, nach der OP, nachdem Haut, Nerven und Muskeln Gelegenheit gehabt hatten zu begreifen, das etwas für immer anders geworden war.
Ich habe viel geweint in diesen ersten beiden Tagen, meistens deshalb, weil ich so dringend wollte, dass diese Schmerzen endlich aufhörten. Das hier war kein Wespenstich. Es tat wirklich höllisch weh.
Darum kam immer wieder die Krankenschwester (die mich immer noch nicht leiden konnte, das war mir klar), um mir ein Mittel zu spritzen oder mich etwas schlucken zu lassen, und kurz darauf klangen dann alle Leute um mich herum total seltsam und das Zimmer sah auf einmal ganz verschwommen aus. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich schlafend verbracht habe. Später jedenfalls, als ich nur noch ganz normale Schmerzmittel bekam und nicht mehr diese bewusstseinsverändernden Hammermittel, habe ich mir oft gewünscht, ich könnte mehr schlafen.
Aber der eigentliche Grund, warum ich die ganzen Details nicht recht auf die Reihe kriegte, war, dass das für mich alles nicht zusammenpasste. Anscheinend war mein Gehirn schlicht nicht imstande, das alles zu begreifen. Ich kam mir so vor, als wäre es in zwei Teile zerbrochen. Irgendwann fragte ich sogar die Krankenschwester, ob in meinem Kopf durch den lauten Schuss irgendwas durcheinandergeraten sein konnte und ich vielleicht aus diesemGrund jetzt Schwierigkeiten mit dem Denken hatte. Der einzige klare Gedanke in meinem Kopf war meine Sehnsucht nach Schlaf. Und mein Wunsch, weit weg von hier zu sein, in einer anderen Welt.
Die Schwester hatte gesagt: »Der Körper hat viele Wege, um sich vor einem Trauma zu schützen«, und ich hatte mir gewünscht, meiner hätte mehr.
Wenn ich abends den Fernseher anschaltete, der an der Wand gegenüber von meinem Bett angebracht war, sah ich jedes Mal Bilder von meiner Schule. Es waren Luftaufnahmen, auf denen sie mir weit weg erschien – so weit weg von allem, wie ich mich fühlte – und die sie wie eine Art Anstalt aussehen ließen, irgendwie unheilvoll und kein bisschen wie der Ort, an dem ich drei Jahre meines Lebens verbracht hatte. Dadurch beschlich mich manchmal ein eigenartiges Gefühl. Es kam mir so vor, als hätte ich es hier nur mit Erfundenem zu tun. Aber die Übelkeit in meinem Magen erinnerte mich wieder daran, dass das hier ganz und gar nicht fiktiv war. Es war real und ich war mittendrin.
Mom saß in diesen ersten beiden Tagen die ganze Zeit über an meinem Bett und
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