Die Hassliste: Roman (German Edition)
klein war. Ich starrte durchs Fenster und schaute einem kleinen Mädchen zu, das weinte, während seine Mutter es festhielt und die Friseurin an den blonden Babylocken herumschnippelte. Ich spähte auch in den Handyladen, wo die Leute alle aussahen, als wären sie irgendwie wütend, sogar die Verkäufer.
Bald war ich am Ende der Ladenzeile und wollte gerade wieder umkehren und zurück zum Supermarkt gehen,als sich an einer Seite des Gebäudes eine Tür öffnete. Eine vollbusige Frau in einem Kittel aus Jeansstoff, der mit bunten Glitzersteinchen besetzt und mit Stofffarbe bemalt war, kam heraus, um ein Tuch auszuschütteln. Dabei flogen überall funkelnde Teilchen herum, sodass sie aussah wie die gute Fee in
Cinderella
in ihrer glitzernden Wolke.
Sie bemerkte meinen Blick und lächelte mich an.
»Kommt ab und zu vor, dass jemand was verschüttet bei uns«, sagte sie fröhlich und verschwand mit ihrem Glitzertuch wieder nach drinnen.
Die Neugier packte mich, das gebe ich zu. Ich wollte wissen, wie es sein konnte, dass etwas so wunderbar schillernd aussah, das durch Verschütten zustande gekommen war. Normalerweise hat es ja hässliche und widerliche Folgen, wenn man etwas verschüttet, ganz sicher keine schönen.
Als die Tür hinter mir zuging, spürte ich, wie die ganze Welt auf einmal ausgesperrt war. Hier drinnen war es dunkel, alles war vollgestopft und es roch wie in der Kirche am Ostersonntag. An den Wänden hingen bis unter die Decke Regale, die beinahe zusammenbrachen unter dem Gewicht von Gipsbüsten, Tongefäßen und Holzkisten in allen Größen. Da waren auch Körbe, Töpfe, seltsam geformte Pappkartons. Ich lief einen der Gänge entlang, der mir das Gefühl gab, klein und kümmerlich zu sein.
Am Ende des Gangs lichtete sich das Chaos urplötzlich und ich schnappte nach Luft. Überall im Raum waren Staffeleien verteilt, mindestens ein Dutzend, und unter einem Fenster, das nach Osten hinausging, stand einlanger, mit Zeitungen abgedeckter Tisch. Es gab jede Menge Körbe und Schachteln mit dem unterschiedlichsten Mal- und Bastelzubehör – da waren Farbkreiden, Tücher, Tonklumpen, Stifte und so weiter.
Die Frau im Jeanskittel, die ich draußen gesehen hatte, saß auf einem Hocker vor einer Staffelei und malte große, purpurfarbene Streifen quer über eine Leinwand.
»Ich finde Morgensonne am inspirierendsten, und du?«, fragte sie, ohne sich nach mir umzudrehen.
Ich gab keine Antwort.
»Jetzt um diese Tageszeit kriegen natürlich die Leute vorm Supermarkt das ganze strahlende Licht ab. Aber ich …«, sie hob ihren Pinsel und stach damit in die Luft, »ich bekomme hier jeden Tag das Sonnenlicht, das am inspirierendsten ist. Den Sonnenuntergang können sie von mir aus behalten. Es ist der Sonnenaufgang, der den Menschen wirklich nahegeht. Jede Wiedergeburt tut das.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich war mir nicht mal ganz sicher, dass sie wirklich mit mir redete. Sie wandte mir immer noch den Rücken zu und arbeitete so konzentriert an ihrem Bild, dass ich mich fragte, ob sie vielleicht mit sich selbst sprach.
So oder so, ich stand jedenfalls wie festgewurzelt an einem Fleck und wusste nicht, wohin ich zuerst gucken sollte. Ich wollte alles berühren – wollte mit den Fingern über Gipsvasen streichen, an den Farbtuben riechen, meine Hände in einen Klumpen Ton drücken – und ich hatte Angst, dass ich bei der kleinsten Bewegung, sei es auch nur der Lippen, dieser Sehnsucht nachgeben würde und dann für immer verloren wäre in dieser Ursuppe der Kreativität.
Sie setzte noch ein paar Tupfer Purpur in die Ecken der Leinwand, dann stand sie von ihrem Hocker auf und ging ein paar Schritte zurück, um ihre Arbeit zu bewundern.
»Ah!«, sagte sie. »Perfekt!« Vorsichtig, damit nichts herunterfiel, legte sie die Malpalette mit dem Pinsel auf dem Hocker ab, dann wandte sie sich endlich um und sah mich an. »Was meinst du?«, fragte sie. »Ist das zu viel Purpur?« Sie drehte sich wieder zur Staffelei und schien in ihrem Bild zu versinken. »Nein. Zu viel Purpur gibt’s gar nicht«, brummelte sie. »Die Welt braucht Purpur. Mehr und immer mehr davon, wirklich wahr.«
»Ich mag Purpur«, sagte ich.
Sie klatschte zweimal in die Hände. »Na dann ist ja gut!«, sagte sie. »Damit ist doch alles klar! Möchtest du Tee?« Sie verschwand in einem Raum, der sich hinter einer Kasse befand. Ich hörte das Klappern von Porzellan und dann ihre gedämpfte Frage: »Wie trinkst du
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