Die Haushälterin
einer Wohnung in Lewisham, das mich an Allermöhe erinnerte, direkt vorm Fenster das Nachbarhaus, im Briefkasten nur die Stromrechnung und Reklame vom Pizza-Service ...
Vielleicht war alles ganz anders, aber nach solch einem Leben sah unsere Schuhverkäuferin aus.
Plötzlich dachte ich, daß mich das alles nichts anging. Ich wollte zurückgehen und sie warnen; ich hatte erlebt, wie ein Mädchen aus der Schule mit gebrochenem Absatz umgeknickt war und mehrere Stunden operiert werden mußte. Dann kam der Bus, und sie stieg ein und fuhr an mir vorbei. Ich sah sie am Fenster sitzen, ein Umriß wie aus Papier geschnitten.
Ich ging zum Markt, kaufte Salat, frische Eier und Karotten. Ich sah ein Töpfchen mit Walderdbeeren und handelte den Preis herunter, probierte orangenen Käse und aß an einem Stand ein Würstchen. Über die Schuhverkäuferin dachte ich nicht mehr nach.
Beim Abendbrot fragte mein Vater, was ich von ihr hielte.
»Und du von ihr?« sagte ich.
»Ein bißchen langweilig«, sagte er.
»Ja«, sagte ich, »und sie verbraucht Mutters Lou Lou.«
Er starrte auf die Walderdbeeren. Ich hatte sie in unserer schönsten Schale auf den Tisch gestellt.
»Es ist nicht einfach, jemanden zu finden«, sagte er. »Ein paar Wochen noch.«
3
Max von der HEW rief an. Er leitete die Presseabteilung, hatte zwei Töchter, die studierten, und spielte am ersten Weihnachtsfeiertag in der Kirche Fagott. Frank aus der Buchhaltung rief auch an. Mein Vater hatte oft mit den beiden im Garten gesessen und Koteletts gegrillt. Sogar Doktor Steinberg rief irgendwann an.
»Ich bin beschäftigt«, sagte mein Vater. »Oder nicht da. Such dir was aus.«
Er bohrte sich ein Stäbchen vom China-Food-Service ins Hosenbein. Die Bezüge der Couch, das Tischtuch, der Gardinenstoff, das ganze Wohnzimmer verströmte nach einer Woche China-Food-Service die Aromen von Ente süßsauer, Pflaumenlikör und Schweinefleisch mit Sojasauce.
»Sag ihnen, ich bin spazierengegangen.«
Damals konnte ich die Nuancen ihrer Stimmen nicht deuten. Die Zahl ihrer Anrufe - allein Doktor Steinberg versuchte es viermal - schien zu belegen, daß mein Vater diesen Männern wichtig war. Er ließ sich weiter verleugnen. Schließlich fragte ich ihn nicht mehr, sondern begann, mir selbst Geschichten auszudenken: Einmal hatte er sich die Schulter ausgekugelt und mußte bis zum nächsten Morgen in der Klinik bleiben, dann war sein Wagen abgeschleppt worden, und er saß in der Stadt fest. Irgendwann blieb das Telefon still. Es kam mir vor, als wäre mein Vater mit dem Sessel verbacken, als nähme seine Haut langsam die Farbe des Polsters an.
Schließlich griff er doch nach dem Hörer, und einige Stunden später stand eine Frau vor der Tür, die, daran konnte ich mich erinnern, in Trines Kombüse am Bahnhof Labskaus und Stintsuppe kochte. Sie war eine dieser älteren Frauen, in deren Gesichtern man gerade noch ein Mädchen ahnen konnte. Sie roch nach süßem Schnaps, und eine breite Laufmasche lief vom Saum ihres Minirocks hinunter bis zum Knöchel. »Bin ich hier falsch?« fragte sie. »Nein«, sagte ich. »Ich bin der Sohn.«
»Sein Sohn? Da hat er nie von gesprochen.« Ich überlegte, ob sie vielleicht zu jenen Frauen gehörte, die ein Witwer - das hatte mein Vater mir nach dem Tod meiner Mutter erklärt - benutzen müsse wie eine Arznei gegen das eigene Sterben.
Am Abend steckte ich mir Watte in die Ohren, band ein schwarzes T-Shirt um meinen Kopf und versuchte zu schlafen, aber ich schwitzte, träumte schlecht, und als ich aufwachte und durch die Wand das Pumpen der Stahlfedern in der Matratze meines Vaters hörte, war mir, als würde darunter unser Leben zu Staub zermahlen.
4
Als mein Vater am nächsten Morgen aus dem Bad kam, klebte Blut an seiner Lippe. Er hielt etwas Gelbliches zwischen den Fingern. Zuerst sah ich weg, und als ich hinsah, erkannte ich Zähne. Die Frau aus Trines Kombüse war fort.
»Nicht so schlimm«, sagte er. »Ist nur eine Brücke.«
Ich wußte nicht, was eine Zahnbrücke war, und traute mich nicht, ihn danach zu fragen. Ich legte mich wieder in mein Bett und starrte an die Decke, wo unter einem Himmel aus fluoreszierenden Sternen der Helikopter hing.
Am letzten Schultag hatten wir bei Luigi Garnelen gegessen und waren danach an die Elbe gefahren. Mein Vater hatte den Wagen direkt am Deich geparkt. Er hatte sich die Hände gerieben, den Kofferraum geöffnet und das rote Geschenkband mit seinem Nagelknipser durchtrennt.
»Lassen wir
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