Die Haushälterin
»Hundert, maximal hundertfünfzig.«
»Verstehe«, sagte mein Vater, obwohl das, glaube ich, nicht stimmte.
»Wissen Sie«, sagte Herr Augustin, »diese Bücher da«, er beugte sich vor und deutete auf das Konversationslexikon, »sind wahrscheinlich mehr wert.«
»Wahrscheinlich«, sagte mein Vater.
»Das war es, was Sie mir zeigen wollten?«
»Ja«, sagte mein Vater. »Genau.«
»Nun«, sagte Herr Augustin. »Ich habe Sie wohl enttäuscht.« Er grinste uns an. »Sie werden entschuldigen. Ich habe noch einen Termin mit einem Sammler aus Kopenhagen.«
»Ich bringe Sie hoch«, sagte mein Vater.
»Es gibt wohl eine Toilette?«
Im Gästeklo stand noch eine verschimmelte Kiste vom Dachboden. Ich führte ihn in den ersten Stock zu unserem Bad bei den Schlafzimmern. Er drehte den Schlüssel im Schloß, und ich ging wieder runter. Während wir warteten, wippte mein Vater von der Krücke auf sein gesundes Bein und wieder zurück.
»Du willst die Möbel verkaufen.«
»Ja«, sagte er. »Ich erkläre dir, wenn er wieder weg ist. Ich dachte, du kommst erst später aus der Stadt zurück.«
Nach einer Weile knackte die Klinke der Badezimmertür.
»Was ist denn das«, rief Herr Augustin.
Wir gingen rauf. Er stand vor der halboffenen Tür zum Schlafzimmer meines Vaters.
»Entschuldigen Sie, ich weiß, es steht mir nicht zu, aber ...«
»Keine Sorge«, sagte mein Vater. »Gehen Sie ruhig hinein.«
Wir folgten ihm. Die muffige Luft schien ihn nicht weiter zu stören. Er ging um das Bett herum und stoppte vor der Chiffonnière, die auf drei ihrer Beine und einem Holzblock stand.
»Die ist wunderbar«, sagte er.
»Finden Sie«, sagte mein Vater.
»Wo ist das vierte Bein?«
»Es war der Länge nach gebrochen. Ich habe es abmontiert und geleimt.«
»Wenn sie all ihre Beine hätte, könnte ich Ihnen sicher ein paar Tausend dafür geben.«
»Ich weiß nicht«, sagte mein Vater. »Eigentlich ist sie unverkäuflich. Ich meine, sie ist unser bestes Stück. Sie hat meiner Frau gehört, seiner Mutter.« Er sah mich an. »Und wenn ich tot bin, sollst du sie haben. Du willst sie doch, oder?« Er leckte sich die Lippen. »Wieviel, sagten Sie?«
»Zwanzigtausend.«
Nun sahen mich beide an: Herr Augustin mit von den Gläsern seiner Brille vergrößerten, in Falten gebetteten Augen, die trotz dieser Spuren des Alters blitzten, und mein Vater mit Augen, die matt und rot geädert waren. Neben diesem alten Mann, der zitterte und schlecht roch und seine Geschichten zum besten gab, wirkte mein Vater bemitleidenswert.
Oft wußte ich nicht genau, was ich wollte, und wenn ich es wußte, fiel mir schwer, es vor anderen auszusprechen. Dieses eine Mal hatte ich kein Problem damit.
»Ich will sie behalten«, sagte ich.
Herr Augustin verzog seinen Mund.
»Das solltest du dir, glaube ich, überlegen«, sagte mein Vater. »Was kannst du schon damit anfangen!«
»Hören Sie«, sagte Herr Augustin. »Es ist heiß heute. Sich von so einem Stück zu trennen ist fast wie die Trennung von einer Frau.« Er lachte. »Vielleicht nicht ganz.«
»Bestimmt nicht«, sagte mein Vater. »Oder doch, ich meine, besser, man löst sich, bevor ...«
Er zögerte, und ich konnte sehen, daß er traurig wurde. »Der Junge. Er hängt einfach an dem Ding.«
Als mein Vater schluckte, drehte Herr Augustin sich um.
»Rufen Sie mich an«, sagte er.
Wir begleiteten ihn nach unten. Mein Vater wollte zuerst an der Tür sein, aber Herr Augustin hatte schon seine Hand auf die Klinke gelegt.
»Vielen Dank«, sagte mein Vater. »Danke für Ihre Mühe.«
»Nichts zu danken«, sagte Herr Augustin, und er hatte recht: Es schien wirklich nichts zu geben, wofür mein Vater sich bei diesem Mann bedanken mußte.
Wir sahen ihm nach, bis er durchs Tor war. Mein Vater winkte.
»Ich melde mich«, rief er. »Bis dann! Schönes Wochenende!«
Aber Herr Augustin war schon bei seinem Wagen und hörte ihn nicht, oder er tat so, als hörte er nichts. Vielleicht aus Hochmut, dachte ich.
22
Nachts lag ich wach. Ich drehte mich auf die Seite, dann auf die andere Seite, und als ich mich zwang, an nichts mehr zu denken oder an Dinge, die ich in solchen Momenten für das Nichts hielt -ein schwarzes Loch, eine weiße Wand, das Wort »nichts« in Buchstaben, die aus Luft bestanden: Da begann Ada zu husten. In einer alten Ausgabe des »Journal of Modern Physics« hatte ich diesen Begriff gelesen, »repetitive Salven«. Wie konnten solche Geräusche aus dem Hals einer Frau stammen? Ich
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