Die Hebamme von Venedig
versuchte sie es weiter oben, unter einer Brust. Lauschte. Ja, das konnte ein schwaches Klopfen sein. Durfte sie ihren Ohren trauen, oder bildete sie sich das Geräusch nur ein? Nein, da war es wieder, der gedämpfte Herzschlag eines kleinen Wesens. Aber er kam so langsam und so schwach. Das Kind starb. Die Contessa starb. Hannah blieb keine Zeit zur Unentschlossenheit.
Sie musste Lucias Leib öffnen und das Baby herausholen. Aber konnte sie sich dazu bringen, die Contessa aufzuschneiden wie der Schächter das Lamm vor dem Pessach-Fest? Wenn ihr diese fürchterliche Tat gelang, würden die zweihundert Dukaten ihr gehören und Isaak an ihre Seite zurückkehren. Welche Bedeutung hatte das Leben einer Christin für sie? Der Conte würde es gutheißen, die Contessa hatte eingewilligt. Gott würde ihr vergeben.
Aber konnte Hannah sich selbst vergeben?
Sie holte das Messer unter Lucias Kissen hervor, ließ etwas Mandelöl auf die Klinge tropfen und verteilte es auf dem Metall. In ihrer Tasche hatte sie einen Schleifstein, auf den sie ebenfalls etwas Öl gab, und dann begann sie die Klinge mit kreisenden Bewegungen zu schärfen. Das Metall machte ein hässlich kratzendes Geräusch. Hannah sah die Contessa an, ob sie es gehört hatte, aber Lucia blieb reglos und reagierte nicht.
Hannah legte ihr zwei Finger auf den Hals, konnte aber keinen Puls fühlen. Sie nahm den silbergerahmten Handspiegel vom Tisch und hielt ihn der Contessa vor die Lippen. Keine beruhigende Atemfeuchtigkeit schlug sich darauf nieder. Lucia war tot. Es gab keinen Grund, länger zu zögern. Schnell ölte sie den Leib ein und zeichnete mit dem Messer eine vorgestellte Linie von über dem Nabel bis zum Becken.
In diesem Moment kam Giovanna herein, einen Stapel Betttücher auf den Armen, und starrte sie mit großen Augen an. »Heilige Maria, Muttergottes, voll der Gnade, gebenedeit seist du und die Frucht deines Leibes …«
»Vergib mir, was ich jetzt tun werde, cara«, flüsterte Hannah.
Giovanna holte tief Luft und sah zum Fenster.
»Lieber Gott, führe meine Hand. Lass mich nicht so tief schneiden, dass ich das Kind verletze, aber auch nicht so flach, dass die Gebärmutter geschlossen bleibt und ich es nicht herausbekomme, bevor es im Blut seiner Mutter erstickt. Hilf mir, diesen Leib zu zerteilen, wie man einen Pfirsich zerteilt, um den Stein herauszunehmen.« Ihr Herz raste.
Hannah sagte zu Giovanna: »Wenn das Blut aus ihrem Bauch spritzt, wisch mir das Gesicht mit einem Tuch ab, damit ich klar sehe und das Baby bei Kopf und Schultern fassen kann.«
Da plötzlich hörte Hannah ein Klingeln in ihren Ohren, und es kam ihr vor, als würde alles Licht aus dem Zimmer gesaugt. Schwindel erfasste sie, und ihre Beine drohten unter ihr wegzuknicken.
»Gott, vergib mir«, sagte sie. »Ich kann es nicht tun.« Sie warf das Messer auf den Terrazzoboden, wo es scheppernd unter dem Bett verschwand. Hannah sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in der seidenen Überdecke. Ihr ganzer Körper zitterte und ihre Schultern ruckten mit jedem neuen Schluchzer.
Etwas Mottenleichtes senkte sich auf ihr Haar, sie fühlte es. Es war Lilith, die gekommen war, Lucia für sich zu beanspruchen, doch dann sah Hannah auf, und es war nicht Lilith, sondern Lucias dünne, heiße Hand, die ihr die Locken hinter das Ohr schob. Die Spannung wich, und Hannah hätte ewig so daknien und sich in Gedanken dahintreiben lassen können, doch Giovanna packte sie am Arm und zog sie auf die Beine.
»Heilige Muttergottes, die Contessa lebt. So tue sie doch etwas!«
Erleichterung erfüllte Hannah, und sie zog sich die Cioppà zurecht, holte tief Luft, tauchte ihre Finger in das Mandelöl, fuhr mit zweien davon in den Geburtskanal und hoffte, dass sich das Baby gedreht hatte. Die Fruchtblase war noch immer nicht geplatzt, die Gebärmutter blieb nass, was eine kleine Gnade war. Ohne Wasser wäre eine Neuausrichtung des Babys unmöglich. Hannah fuhr tiefer zwischen Lucias Schenkel, Zeige- und Mittelfinger glitschig von Mandelöl. Sie ertastete den Weg zur Gebärmutter, aber bevor sie den Gebärmuttermund erreichte, stieß sie auf das, was sie am meisten gefürchtet hatte.
Eine winzige, schlaffe Hand.
Kapitel 4
M inuten verstrichen, zwei Möwen schrien hoch über ihnen, und Josephs Hand schloss sich wie eine Eisenfessel um Isaaks Arm. Hatte denn tatsächlich niemand in der Menge Mitleid mit ihm und rettete ihn vor diesem üblen Heiden? Es ging um eine so kleine Summe, aber die Leute,
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