Die Hebamme von Venedig
seine Zukunft. Er musste lange genug am Leben bleiben, um die Reise zurück zu Hannah antreten zu können. Konnte er nur so tun, als konvertierte er? Konnte er in einer Frage, die so wichtig war wie der Glaube, insgeheim etwas anderes tun, als er nach außen hin vorgab? Die Sephardim waren von König Ferdinand und Königin Isabella gezwungen worden zu konvertieren, aber viele waren im Verborgenen ihrem Judentum treu geblieben. Ging das? Ein Mann konnte nie sagen, wozu er fähig war, es sei denn, er testete es aus. Gott würde ihn verstehen und ihm vergeben. Er würde es wenigstens versuchen.
Isaak hielt sich am Rand des Tisches fest, um sich auf die Knie niederzulassen. So beteten die Christen: auf den Knien, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet – alles sprach von einer Erniedrigung vor Gott. Der Mensch war nichts, Gott dagegen allmächtig. Isaak schien es, als wären seine Gelenke eingerostet wie die Scharniere des Tores zum Ghetto. Er sah den Rabbi vor sich, der sich während der Morgengebete schnell wie ein Blitz vor und zurück wiegte.
Isaak reichte Schwester Assunta die Hand, öffnete den Mund und sprach das einzige christliche Gebet, das er kannte, das Vaterunser. »Vater unser«, begann er, »der Du bist im Himmel …«, und obwohl er die Lippen weiterbewegte, blieben ihm die Worte wie Fischgräten in der Kehle stecken.
Schwester Assunta kniete sich neben ihn und sprach ihm vor: »… und auf Erden. Geheiligt werde Dein Name …«
Er versuchte es noch einmal, doch seine Zunge fühlte sich schwer und geschwollen an und versagte ihm ihren Dienst. Er spürte, wie sich tiefe Scham in ihm ausbreitete und ihm alle Kraft nahm wie ein Fieber. Der schwächste Mann ist der Erste, der sich unterwirft. Hier kniete er und hielt die Hand einer christlichen Nonne. Er war der feigste aller Menschen.
»Schwester«, sagte er, »ich bin ein Jude, und ich kann nicht anders.« Damit erhob er sich und schlug sich den trockenen Hühnerdreck von den Knien.
Sie richtete sich ebenfalls auf. »Wenn es so ist, bemitleide ich dich für deine Torheit und wünsche dir alles Gute. Das Leben wird hart für dich werden. Das Klima hier ist nicht angenehm. Tagsüber brennt die Sonne, und des Nachts frierst du ohne die richtigen Kleider und eine Decke. Und im Winter erst! Da nimmt der Wind vom Meer vielen das Leben.« Sie trat zu einem Regal seitlich an der Wand, griff nach einem einfachen Rosenkranz und gab ihn Isaak. »Nimm. Er wird dich an mein Angebot erinnern. Noch weist du den Gedanken an einen Übertritt zum wahren Glauben zurück, aber höre auf meine Worte: In ein paar Monaten schon wirst du mich anflehen, dich den Katechismus zu lehren.«
Ein Geschenk abzulehnen, besonders von jemandem, der einem das Leben gerettet hatte, war unverzeihlich. Er nahm den Rosenkranz. »Es tut mir leid, Schwester, aber ich habe nicht das Talent zum Christen.«
»Es gibt keine Möglichkeit, von dieser Insel zu fliehen. Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen.«
»Ich denke nicht daran, zu fliehen«, log Isaak. »Die Gesellschaft für die Befreiung Gefangener in Venedig finanziert sich durch eine Abgabe, die alle venezianischen Juden auf den Wert ihrer Frachtgüter bezahlen. Sie wird mich auslösen.«
»Gut, denn wenn du in die Stadt kommst, wirst du die Patrouillen des Ordens im Hafen sehen. Kein Kapitän riskiert es, dem Großmeister zu missfallen, indem er dich mit ihm von der Insel gehen lässt. Wenn er dabei ertappt würde, dürfte er nie wieder hier anlegen und Wasser und Proviant aufnehmen, und kein Schiff, das in die Levante will, kann das, ohne bei uns Station zu machen. Wir sind ein Provianthafen. Nimm das mit …« Sie warf ihm das Schaffell zu, das ihm gegen die Brust prallte. »Es fängt an, in meiner Küche zu stinken.« Sie wusch sich die Hände in einem Eimer in der Ecke. »Und nun fahren wir.«
Er hielt das Fell vor sich und fragte sich, was er damit anfangen sollte. Wenn sie ihm doch stattdessen ein Huhn angeboten hätte, oder wenigstens den sehnigen alten Hahn. »Vielleicht gewährt Ihr mir ja die Ehre, eines Tages einen Brief für Euch schreiben zu dürfen«, sagte er. »Ihr seid die Einzige auf dieser Insel, die mir gegenüber Güte bewiesen hat.«
»Isaak, du wirst nicht lange genug leben, um hübsche Briefe für mich zu schreiben oder mir aus der Bibel vorzulesen. Kein Mensch überlebt die Galeere.«
»Wie meint Ihr das?«
»Ich verkaufe dich wieder an Joseph. An das Ruder einer Galeere gekettet zu sein, wird deinen
Weitere Kostenlose Bücher