Die Hebamme von Venedig
Wehen entwickeln kaum eine Kraft. Wie müssen ihre Schenkel anheben, damit wir das Rückgrat gerade bekommen.«
Giovanna stopfte Kissen unter den reglosen Körper der Contessa und warf Hannah dabei einen Seitenblick zu. »Sie scheint eine Menge Erfahrung zu haben. Hat sie selbst schon Kinder auf die Welt gebracht?«
»Zu meinem großen Bedauern, nein.« Sie musste an den Optimismus denken, mit dem sie und Isaak sich monatlich nach ihrer Periode vereinigt hatten, und an die Verzweiflung, wenn die nächste Blutung einsetzte.
»Eigenartig, dass sie Hebamme geworden ist, ohne selbst je eine Geburt erlebt zu haben.«
Unter anderen Umständen hätten sie diese Worte geschmerzt, dachte Hannah. Aber behandelte nicht auch ein Arzt mit Medikamenten Krankheiten, die er selbst nie hatte durchleiden müssen? Hannah sagte nichts. Sie hatte sich um zwei Menschen zu kümmern, die sich auf der schmalen Brücke zwischen Leben und Tod befanden. Sie hatte im Moment Wichtigeres zu tun, als sich mit Giovannas Fragen zu beschäftigen.
Aber Giovanna war noch nicht fertig. »Stecken alle Hebammen aus dem Ghetto ihre Finger in Öffnungen, in die sie nicht gehören?«
»Vielleicht kann sich das Kind drehen, wenn das Rückgrat gestreckt ist«, sagte Hannah, fasste die Hand der Contessa und beugte sich hinunter zu ihrem Ohr, ohne weiter auf Giovanna einzugehen. »Hört mir zu, cara. Euer Baby lebt, aber Ihr müsst dabei mithelfen, es auf die Welt zu befördern. Wenn der Moment gekommen ist, müsst Ihr mit aller Macht pressen. Ich weiß, Ihr seid müde nach dieser endlosen Tortur, aber Ihr müsst an Euer Kind denken und Euer Möglichstes geben.« Manchmal half eine Prise Cayennepfeffer, und das starke Niesen trieb das Kind aus dem Leib, wenn die Mutter nicht mehr die Kraft zum Pressen hatte, doch auch dafür musste das Kind in der richtigen Position liegen.
Lucias Gesicht bekam wieder etwas Farbe. »Ist sie sicher, dass das Kind noch lebt? Hat sie sein Herz gehört?«
Hannah nickte.
»Die heilige Jungfrau ist voll der Gnade.«
»Ja, aber uns bleibt wenig Zeit.« Hannah strich der Contessa über die Stirn, schob eine nasse Strähne zurück und nahm Lucias Hände in ihre. »Ich lasse all meine Kraft in Euch strömen. Ich habe genug für uns beide. Fühlt, wie sie in Euch eindringt, und nutzt sie.«
Lucia drückte Hannahs Hände.
Nach einer Weile ließ Hannah sie los und trat ans Ende des Bettes, wobei sie auf dem blutverschmierten Boden ausrutschte und sich gerade noch an einer der Bettsäulen festhalten konnte. Sie glaubte, einen dunklen Umriss oben am Baldachin aufwirbeln und mit einem leisen Schrei hinauf zur Decke flattern zu sehen. Vielleicht war es eine Fledermaus von einem der Obstbäume draußen. Giovanna musste sie auch gesehen haben, denn sie wurde ganz blass und zog sich ihren Schal enger um die Schultern.
Lauter als nötig sagte Hannah: »Gott ist auf unserer Seite. Mit Seiner Hilfe können wir nicht scheitern. Wir warten einen Moment und sehen, ob sich das Baby von allein gedreht hat oder ob ich es von außen mit Druck dazu bringen muss. Besser, das Kind schafft es selbst.« Wenn sich der Fötus nur drehte, würde sie ihre Geburtslöffel benutzen können.
Während Lucia reglos dalag und wieder und wieder von Wehen geschüttelt wurde, lief Hannah im riesigen Zimmer umher und öffnete alle Schubladen, Schränke und Türen, löste Schlaufen, schob Vorhänge zurück und hob Truhendeckel an. Es war allgemein bekannt, dass sich so die Öffnung des Geburtskanals erleichtern ließ.
Giovanna, die das schon viel früher hätte tun sollen, war draußen auf dem Korridor und sprach mit dem Conte. Das Murmeln ihrer Stimme drang ins Zimmer der Contessa. Hannah konnte hören, wie der Conte Giovanna fragte, ob sie Fortschritte machten.
»Wie kann es gut sein, eine Ungläubige zu einer Geburt zu rufen, Euer Hochwohlgeboren?«
Hannah verstand nicht, was der Conte darauf antwortete, sondern hörte nur: »Tut, was immer ihr für das Baby tun könnt. Sie ist meine letzte Hoffnung auf einen Erben.«
Hannah wischte mit einem feuchten Tuch über das Gesicht der Contessa. »Lasst mich sehen, ob sich das Baby gedreht hat.« Sie fuhr ihr mit den Händen über den Leib. »Gut, der Kopf hat sich gesenkt. Noch nicht genug, aber er liegt besser. Versuchen wir es noch einmal.« Sie rief Giovanna zurück ins Zimmer. »Halte sie die Beine für mich. Schnell. Sie wird jetzt pressen.«
Giovanna ging in die Knie und nahm Hannahs Position an Lucias Seite
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