Die Hebamme von Venedig
voller nichtjüdischer Besucher ist, die Geld leihen, gebrauchte Kleider oder Edelsteine kaufen wollen, war sie nicht sicher, ob es sich um ein jüdisches oder christliches Baby handelte.«
Der Conte beugte sich etwas vor, die Brauen aufmerksam zusammengezogen. Hannah war es nicht gewohnt, vor einem Christen so frei zu sprechen, aber unter seinem gespannten Blick lockerten sich ihre Schultern, und die Worte flossen nur so aus ihrem Mund.
»Und sie wusste sich auch nicht zu erklären, wie das Baby hier draußen hatte überleben können. Sie nahm das Baby und untersuchte seine Wäsche, um vielleicht einen Hinweis auf seine Herkunft zu finden. Dabei fiel dieser Schaddai aus den Wickeltüchern.« Hannah gab ihn dem Conte, der ihn vor sich hin hielt. »Da verstand sie, was das Kind vor dem eiskalten Februarregen und gierigen Kanalratten gerettet hatte.«
Der Conte ließ den Schaddai, der an einer schmalen roten Kordel hing, zwischen seinen Händen baumeln. Das Amulett, nicht größer als die Hand eines Neugeborenen, schimmerte im Licht der Kerzen.
Der Conte sah zu Hannah auf, den Kopf angewinkelt, eine Hand um ein Knie gelegt, als gäbe es nichts Wichtigeres auf dieser Welt, als ihr zuzuhören. »Und wie ist es am Ende in ihre Hände gelangt?«
»Das halb erfrorene, dem Tod überlassene Bündel war meine Mutter.« Zu Hannahs Überraschung wurden die Augen des Conte feucht, und da musste auch sie sich mühen, die Tränen zurückzuhalten. »Dieser Schaddai hat alle Babys meiner Familie beschützt, einschließlich meiner Schwester Jessica, die mit der Nabelschnur um den Hals auf die Welt kam. Meiner Schwester hat das Amulett das Leben gerettet, aber nicht meiner Mutter, die eine Woche später am Kindbettfieber starb.«
»Das haben wir gemeinsam, meine Liebe«, sagte der Conte. »Meine Mutter starb, nachdem sie Niccolò geboren hatte – sie hat ihn bestimmt bei ihrer Ankunft mit Jacopo würfeln sehen.« Er tätschelte ihr die Hand. »Ich verstehe, dass sie das Amulett nicht hergeben kann. Eines Tages wird sie es für ihr eigenes Baby brauchen.«
Er musste an ihrem Zimmer gesehen haben, dass sie noch ohne Kinder war. »Möge Euer Wort in Gottes Ohr wohnen«, sagte sie.
»Aber kann ich es mir ausleihen?«, fragte der Conte. »Giovanna wird es ihr zurückbringen, wenn die Niederkunftszeit vorüber ist.«
»Lass mich mal sehen, Bruder.« Jacopo nahm dem Conte das Amulett aus der Hand. »Was für eine Schrift ist das?«
Hannah wollte es ihm aus den weichen, manikürten Händen reißen, antwortete aber: »Das ist Hebräisch. Es sind die Namen der drei Engel, die alle Neugeborenen schützen, und das …«, sie drehte den Schaddai und zeigte ihm die andere Seite, »das ist der Stern Davids.«
»Denkt sie, ein jüdisches Amulett kann ein christliches Baby schützen?«, fragte Jacopo. Er sah seinen Bruder an. »Bruder, ich glaube, damit belegt sie dein Kind mit einem Zauber.«
Was konnte sie darauf antworten?
Aber bevor sie noch Zeit hatte, darüber nachzudenken, fragte sie der Conte: »Sie glaubt also, dass wir zum selben Gott beten?« Er streckte die Hand nach dem Amulett aus, das Jacopo ihm entgegenwarf. Der Conte polierte es an seinem Ärmel.
»Es gibt nur einen Gott, für jüdische wie für nichtjüdische Babys«, sagte Hannah. »Die Mutter sorgt mit ihrem Blut für das Rot der Babyhaut, das Fleisch, das Haar und das Hintere des Auges. Der Vater sorgt mit seinem Samen für die weißen Teile, Knochen, Sehnen, Nägel und den weißen Stoff des Gehirns. Aber Gott, und nur Gott, bläst Leben und Geist in ein Kind, nur durch ihn wird es zu einem Menschen.«
Jacopo öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie sprach weiter: »Gemeinsam schaffen Mann, Frau und Gott neues Leben.«
»Ja, ich glaube, sie hat recht.« Der Conte wirkte erschöpft. »Aber sie hat mir meine Frage noch nicht beantwortet: Kann ich mir ihren Schaddai ausleihen?«
Es würde gefährlich sein, ihr Amulett in diesem Haus mit Giovanna und Jacopo zurückzulassen, das wusste sie. Aber sie hatte das unangenehme Gefühl, dass das Baby den Schutz brauchte. »Ja, ich will es Euch ausleihen.«
»Dann gebe sie mir bitte auch Anleitung für seinen Gebrauch«, sagte der Conte.
»Steckt es in die Decken des Kindes und belasst es immer bei ihm. Jetzt ist die Zeit der größten Gefahr. Das Amulett wird seinen Teil tun, aber auch Ihr müsst Euren tun. Das Kind sollte immer im Haus behalten werden, das Fenster zu seinem Zimmer gegen die Nachtluft geschlossen
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