Die Hebamme von Venedig
Eurem Onkel suchen, der alt ist, und statt seiner das Baby mit sich nehmen.«
Der Conte überlegte einen Moment. »Dann will ich ihn Matteo nennen, zu Ehren meines verstorbenen Vaters.«
Sollte Hannah je einen Sohn gebären, wollten sie und Isaak ihn Samuel nennen. So hatte ihr Großvater väterlicherseits geheißen, der mit Gebrauchtwaren gehandelt hatte, ein Violinist und geachteter Gelehrter.
»Wann fährt sie nach Malta?«
Sie hatte noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Sie musste ihre wenigen Kleider packen, sich von Freunden und Verwandten verabschieden und ein Schiff finden, das sie zu Isaak brachte. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr das alles gelingen sollte, aber sie antwortete: »Sobald ich eine Möglichkeit zur Überfahrt finde.«
»Wende sie sich an meinen Freund Marco Lunari, der in Dorsoduro wohnt. Sein Schiff, die Balbiana , segelt bald nach Konstantinopel und wird auf Malta festmachen, um Proviant und Wasser nachzufassen. Ich gebe ihr ein Empfehlungsschreiben mit.«
Dass ein Christ solche Umstände auf sich nahm, um einer Jüdin zu helfen, hatte Hannah noch nie erlebt. »Ihr seid ein Edelmann in jedem Sinne des Wortes«, sagte sie. Als er in der Nacht mit seinem Bruder gekommen war, um sie zu holen, hatte sie ihn für eine selbstbezogene Person gehalten, ohne Sinn für anderer Leute Sorgen. Da hatte sie ihn falsch beurteilt.
»Gott wird sie schützen, meine Liebe.« Er klopfte ihr auf die Schulter und sah zu Giovanna hinüber, die das Baby betrachtete und ihm mit dem Finger über die kleine Wange fuhr. »Mein Bruder Niccolò ist unten und möchte das Baby sehen. Ich werde ihn holen, damit sie auch ihn noch kennenlernt, bevor sie geht«, sagte er zu Hannah.
Der Conte verließ den Raum, und zu Hannahs Erleichterung stand Jacopo auf und folgte ihm.
Als sie allein waren, sah Giovanna von Matteo auf. »Ich habe dem Conte nichts von ihrem Werkzeug erzählt und wie ihr meine arme Herrin damit gefoltert habt. Der Inquisitor wäre sicher sehr interessiert, davon zu hören.«
Giovannas Worte nahmen Hannah alles Glücksgefühl. »Mein Instrument hat das Leben des Babys gerettet. Das muss sie doch gesehen haben. Hätte sie es lieber gehabt, wenn ich ihre Herrin aufgeschnitten hätte?«
»Sie hat dieses Baby mit dem Zeichen des Teufels versehen. Es ist ganz einfach, einen Zettel mit dieser Nachricht ins Maul des Löwen im Dogenpalast zu werfen«, schnaufte sie. »Das würde mir großen Spaß machen.«
Hannah musste an die Geschichte einer sephardischen Frau namens Esther aus dem Ghetto Vecchio denken. Diese Esther war vom Hafen gekommen, wo sie Fisch gekauft hatte, als sie die Schreie eines kleinen Mädchens hörte, das seinem Kindermädchen davongelaufen und in den Rio della Sensa gefallen war. Das Kind, das nicht schwimmen konnte, brach in Panik aus, schluckte das schmutzige Kanalwasser, schrie und schlug um sich. Esther griff sich ein Ruder aus einer leeren Gondel und fischte das Kind damit aus dem Wasser. Sie trocknete die schluchzende Kleine ab und brachte sie nach Hause. Am nächsten Tag starb das Kind am Kanalfieber, worauf die Mutter des Mädchens, die überzeugt war, Esther sei eine Hexe, sie bei der Inquisition anschwärzte. Esther wurde von zwei Männern aus dem Stab des Inquisitors abgeholt und ward nie wieder gesehen. Wie leicht würde Hannah etwas Ähnliches geschehen können …
»Was macht sie mit all dem Geld, das der Conte ihr gegeben hat?«, fragte Giovanna.
»Ist es wegen des Geldes, dass sie mich hasst?«
»Ich hasse sie, weil ich gesehen habe, was sie getan hat – diese Vorrichtung, die sie in meine Herrin getrieben hat, wie eine Schaufel in die Erde. Wer weiß schon, warum Juden tun, was sie tun? Vielleicht reicht es ihr nicht, Gott umgebracht zu haben, vielleicht will sie auch noch dieses Baby töten.«
Hannah ging zu Giovanna und nahm ihr Matteo aus dem Arm, küsste ihn und atmete seinen milchigen Geruch ein. Mit der Hand seinen kleinen Kopf haltend, prägte sie sich sein Bild ein und verankerte es tief in ihrer Erinnerung. Sie würde ihn nur noch einmal sehen, wenn sie kam, um das Amulett ihrer Mutter abzuholen. Der Gedanke machte sie traurig. Sie würde seinen Weg durchs Leben nicht verfolgen können, würde ihn nicht krabbeln und laufen lernen sehen, nicht Zeuge werden, wie er selbst die ersten Knöpfe zumachte und mit dreizehn seinen Bund mit Gott schloss. Bei den Kindern im Ghetto nahm sie an alldem teil. Matteos Leben würde ihr verborgen bleiben, und das
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