Die Hebamme von Venedig
von Hannahs Kleid, der unter dem Mantel des Conte hervorsah. »Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, was dich um diese Zeit herbringt. Und … ist das Blut auf deinen Sachen?«
Hannah zog Jessica tiefer in den Torweg und flüsterte: »Eine Geburt in einem Palazzo am Canal Grande.«
»Eine christliche Geburt? Du machst Witze!« Staunend sah Jessica ihre Schwester an. »Du? Die kleine Ghettomaus? Du willst mir sagen, du hast das päpstliche Edikt gebrochen? Dafür könntest du vorm Inquisitionsgericht landen.«
»Bei Gott und allen Heiligen, nicht so laut«, sagte Hannah. »Es ging allein darum, das Lösegeld für Isaak zu verdienen.«
»Mein Gott, das Leben hat uns beide zu mutigen Frauen gemacht.« Jessica drehte ihre Locken zu einem Knoten und schob sie zurück unter die Jungenkappe.
Hannah protestierte. »Das ist kaum zu vergleichen.«
»Natürlich ist es das. Wir beide tun Dinge, die wir lieber nicht tun würden, weil wir das Geld brauchen. So bekommst du am Ende Isaak zurück, und ich habe meine Samtkleider und Mieteinnahmen, die mir kein Mann nehmen kann.«
Hannahs Augen konnten sich nicht von dem Kruzifix um Jessicas Hals lösen. »Bist du jetzt wirklich Christin? Du beachtest doch sicher noch den Sabbat?«
»Das habe ich alles hinter mir gelassen«, sagte Jessica.
»Kein Segnen der Kerzen am Freitagabend, keine Challah?«
»Ich feiere nicht mal Pessach, und ich habe einen riesigen Schinken im Fenster hängen, damit alle sehen, da wohnt eine Christin.«
Das Leben einer Ungläubigen, frei von Regeln, frei von Beschränkungen. Jessica hatte nicht nur ihre Vergangenheit und die Menschen, die sie geliebt hatte, verloren, sondern auch ihre Religion. Hannah spürte Wut in sich aufsteigen. »Du scheinst ein selbstsüchtiges Leben zu führen und nur an die Annehmlichkeiten zu denken, die du mit Geld kaufen kannst.«
»Du hältst mich für selbstsüchtig? Du bist doch die Selbstsüchtige. Du hast das ganze Ghetto in Gefahr gebracht, indem du einem christlichen Kind auf die Welt geholfen hast.«
»Ich habe es für Isaak getan.«
»Für dich hast du es getan, damit du deinen Ehemann wieder in den Armen halten kannst. Du wirst von Männern beherrscht, dem Rabbi, Isaak und unserem Vater, als er noch lebte. Du bist eine kleine Ghettomaus und wirst nie etwas anderes sein.«
Die Härte in Jessicas Stimme schockierte Hannah.
»Ich bedaure es, dass ich dich in jener Nacht vor Jahren um Hilfe gebeten habe«, sagte Jessica. »Ich hatte gehofft, ich wäre dir wichtig genug, dass du den übel gelaunten alten Ziegenbock eines Rabbis zurückweisen und deiner einzigen Schwester dabei helfen würdest, ihr erstes Kind auf die Welt zu bringen, aber da hatte ich mich getäuscht.«
Hannah wollte sie nach dem Baby fragen, brachte es jedoch nicht über sich.
»Die ganze Nacht habe ich deinen Namen gerufen und dann ein Mädchen geschickt, dass dich holen sollte. Ich wollte dich, nur dich, um mir auf dem Geburtsstuhl zu helfen, statt dieser ungeschickten Gemeindehebamme von San Marcuola.« Jessica versagte die Stimme. »Mein Baby kam tot auf die Welt. Es ist im Geburtskanal erstickt.«
Lieber Gott! Das hatte Hannah nicht gewusst.
»Du sagst, du liebst mich, aber als ich dich am meisten gebraucht habe, hast du mich im Stich gelassen.«
»Das ist nicht fair. Ich konnte mich dem Rabbi nicht widersetzen.«
»Nun, das hast du zweifellos auch getan, als du dieser Adligen bei ihrer Niederkunft geholfen hast. Schade, dass du nicht so mutig warst, als ich dich gebraucht habe.«
Hannah spürte einen reißenden Schmerz in der Brust, als wollte ihr das Herz aus dem Körper springen. Sie schnappte nach Luft, verhängte innerlich ihren Spiegel und zerriss ihre Kleider, und es war nicht wie vor Jahren, als der Rabbi es ihr befohlen hatte, diesmal kam es von Herzen. Die Schiwa war vollendet, jetzt war Jessica tatsächlich für sie gestorben.
Ohne einen weiteren Blick auf ihre Schwester nahm sie ihre Tasche, trat aus dem Torweg hinaus in die Morgensonne, die den Nebel so gut wie vertrieben hatte, und lief zum Tor des Ghettos. Ihre Freude darüber, die Contessa und ihr Baby gerettet zu haben, war verebbt wie die Wellen von einer vorbeifahrenden Gondel.
Im Weggehen hörte Hannah, wie Jessica hinter ihr herrief: »Lauf in dein stickiges Ghetto! Ich mag in deinen Augen unmoralisch sein, aber du hast das Gesetz gebrochen! Du stürzt nicht nur dich selbst ins Verderben, sondern alle, von denen du behauptest, dass du sie so sehr
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