Die Hebamme von Venedig
liebst!«
Kapitel 9
H annah blieb keine Wahl. Sie musste zurück zum Palazzo di Padovani mit all seinem Marmor und Gold, seinem Silber, den riesigen Räumen und rätselhaften Christen. Seit vierzig Tagen wartete sie jetzt vergebens darauf, dass Giovanna ihr die Geburtslöffel zurückbrachte.
Außerdem bereiteten ihr die Gerüchte, die im Ghetto kursierten, Sorge. Es hieß, die Pest habe wieder Einzug in Venedig gehalten. Vor zwei Jahren war der Schwarze Tod schon einmal über die Stadt hergefallen, und weil das Ghetto aus unerklärlichen Gründen unbeschadet geblieben war, hatten viele Christen die Juden für die Katastrophe verantwortlich gemacht. Hannah betete, die Pest möge sich diesmal nicht allzu schnell ausbreiten. Ihr Schiff nach Malta musste Venedig unbedingt verlassen, ehe die Stadt womöglich unter Quarantäne gesetzt würde.
Zur Vorbereitung ihrer Reise saß sie auf dem Dach ihres Hauses, dem einzigen Ort, an dem sie die Äpfel trocknen konnte, die ihr der Rabbi gegeben hatte. Das Obst, frisch von der Laguneninsel Torcello, war ein Luxus, den sie sich niemals hätte leisten können. Am Morgen hatte er ihr den Korb gegeben und dabei so zufrieden gewirkt, als stammten sie aus seinem eigenen Garten. »Nimm sie und meine besten Wünsche«, hatte er gesagt, »und wenn bei deiner Ankunft auf Malta noch welche davon übrig sind, gib sie Isaak.« Hannah bedankte sich. Bei jedem anderen wäre ein solches Geschenk ein Friedensangebot gewesen, aber beim Rabbi? Wer konnte das sagen?
Die Äpfel waren in diesem Jahr so rot und saftig, dass Hannah die Schalen hätte auskochen können, um Flachs damit zu färben. Mit verschränkten Beinen auf den Brettern des Daches sitzend, schnitt sie einen weiteren Apfel in Stücke, entfernte das Gehäuse mit der Spitze ihres Messers und legte die Stücke mit der geschnittenen Seite nach oben zum Trocknen auf ein altes Leintuch.
Die Sonne brannte vom Himmel und füllte ihre Nase mit dem Geruch des Pechs, das zwischen den Brettern des Daches weich wurde. In ein paar Stunden würden die Äpfel geschrumpft sein, und sie konnte sie in Stoff wickeln und zum Rest des Proviants packen. Das Leintuch war voller Flecken von ihren bereits getätigten Vorbereitungen für die Reise, Längsstreifen, wo sie Lammfleisch und Rindfleisch getrocknet hatte, und münzgroßen Kreisen von Möhren und Steckrüben.
Übermorgen, wenn die Gezeiten in der Lagune die stärksten Strömungen hinaus aufs offene Wasser gewährten, würde sie auf der Balbiana Richtung Malta segeln, was, wie der Freund des Conte, Kapitän Marco Lunari, sagte, je nach Wetter und Gottes Willen mehrere Wochen dauern konnte. Seit Tagen hatte sie nur Hühnerbrühe getrunken, weil ihr Magen vor Aufregung wie verschnürt war.
Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und sah auf den Campo tief unter ihr. Eine ihr bekannt wirkende Gestalt eilte an den Läden der Geldverleiher, Metzger und Bäcker vorbei und überquerte den Platz. Ihre hohen Schuhe schützten sie vor dem Schmutz und ließen ihren Gang unsicher wirken. Als sie näher kam, erkannte Hannah Jacopo.
Hannah ließ das Messer fallen. Einen Moment lang überlegte sie, ob Matteo womöglich krank war und Jacopo sie zu Hilfe rufen wollte. Aber nein, wahrscheinlicher war es, dass der Conte seinen Bruder geschickt hatte, um ihr die Geburtslöffel zurückzubringen – obwohl, warum sollte er gerade ihm diese Aufgabe übertragen, war das Haus doch voller Dienerschaft? Sie beobachtete, wie er eine alte Frau ansprach und diese zu ihr hinauf aufs Dach deutete. Hannah blieb keine Zeit, sich irgendwie vorzubereiten, sie konnte sich nur ein Tuch ums Haar binden und auf Jacopos Ankunft warten. Es war sowieso besser, ihn hier oben zu sprechen als unten auf dem Campo, wo jedes Wort mitgehört werden konnte.
Gerade als sie nachsehen wollte, wo er denn blieb, hob sich die Luke am Ende der Treppe, fiel krachend aufs Dach, und Jacopo stieg daraus hervor. Vom Aufstieg über die vier Etagen war sein Gesicht heftig gerötet. Er trug eine seidene Strumpfhose und die Knöpfe seiner Jacke waren mit bestickter Seide überzogen. Was konnte es bedeuten, wenn ein Mann bis auf ein paar schüttere Strähnen auf dem Schädel so haarlos war, dass man den Eindruck hatte, er sei in einen Bottich Lauge getaucht worden, um auch noch den feinsten Flaum zu entfernen? Juden, vom Rabbi bis zum Schächter, waren voller Haare, hatten wallende Bärte, zottige Brüste und Peies, lange Schläfenlocken, die ihnen
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