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Die Hebamme von Venedig

Die Hebamme von Venedig

Titel: Die Hebamme von Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberta Rich
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Hannah hatte Jessica immer wieder mal aus der Entfernung beim Mercato di Rialto oder in der Calle della Masena gesehen, nicht weit vom Tor des Ghettos entfernt, aber beide hatten sich nicht getraut, miteinander zu sprechen oder sich gar nur zur Kenntnis zu nehmen.
    Die Haare auf Hannahs Armen richteten sich auf, als sie die Stimme hörte. Täuschte der Nebel sie vielleicht? Sie hatte zu lange nicht geschlafen. Die Müdigkeit trübte ihren Blick und verwirrte ihren Verstand. Doch nein, da war sie wieder, lauter jetzt und näher, und sie konnte nicht anders, sie eilte darauf zu.
    Hannah konnte sich nicht irren, die Stimme klang haargenau wie Jessicas – aber die singende Gestalt vor ihr entpuppte sich als ein Junge mit saphirfarbener Weste, bestickter Kniebundhose und blauer Samtkappe. Er trug eine einfache schwarze Zanni aus Papiermaché, die seine Augen und die Nase bedeckte.
    Hannah betrachtete ihn entgeistert, und als er auf sie zutrat, sagte sie: »Entschuldigung, eine Verwechslung.«
    Sie wollte sich gerade abwenden, als der Junge ihren Arm fasste.
    »Hannah? Erkennst du mich denn nicht?«
    Jetzt bestand kein Zweifel mehr. Dieses leichte Lispelgeräusch. Es war Jessicas Stimme. Hannah sah, wie die schlanke Gestalt sich die Kappe vom Kopf nahm und eine wahre Flut dunklen Haares darunter hervorquoll. Dann nahm Jessica auch die Maske ab.
    »Erkennst du deine eigene Schwester nicht mehr? Habe ich mich so gut verkleidet? Du, meine liebste Hannah, bist in deiner blauen Cioppà und mit dem Schal über dem hübschen Haar gleich zu erkennen.« Jessica lächelte und ließ zwei Grübchen sehen, die so zart waren wie die Spitzen eines Engelsflügels.
    Der Anblick erwärmte Hannah das Herz. Mit einem Mal fühlte sie sich stark genug, der Zukunft ins Auge zu sehen und ein Dutzend weiterer Babys in einem Dutzend weiterer schlafloser Nächte auf die Welt zu bringen. Sie umarmte ihre um fünf Jahre jüngere Schwester und vergrub das Gesicht in Jessicas Haar.
    »Kein Tag vergeht, ohne dass ich an dich denke und mich frage, wie es dir geht.« Sie wollte sagen: Ich liebe dich, Jessica. Ich habe dich immer geliebt, selbst noch, als du aus dem Ghetto fortgelaufen bist. Sie wollte Jessica erzählen, was in dieser Nacht passiert war, doch sie beherrschte ihre Zunge und fragte stattdessen: »Warum bist du gekleidet wie ein Page?«
    »Ich komme von einem Fest in einem Palazzo am Canal Grande und bin auf dem Weg nach Hause.«
    Hannah hatte von Maskenbällen gehört, bei denen sich die Christen wie Figuren der Commedia dell’Arte anzogen – Pulcinello, Pedrolino, Arlecchino und Brighella. War Jessica mittlerweile so christlich, dass sie an solchen Zerstreuungen teilnahm? Es schien unmöglich, und doch, da stand sie, und ihre Satinhose glitzerte im Morgenlicht.
    »War es ein Maskenball?«
    »Nicht wirklich«, sagte Jessica. »Ich war die einzige kostümierte Frau. Viele ältere Männer lieben kleine Jungen, wobei sie es meist vorziehen, wenn es sich am Ende tatsächlich um hübsche junge Frauen handelt.«
    Hannah nickte, ohne etwas zu verstehen.
    Jessica senkte die Stimme und zog Hannah in den Schatten eines Hauses. »Die Männer fürchten die Unzuchtgesetze.«
    »Das verstehe ich nicht.« Unzucht . Hannah hatte nur eine vage Vorstellung, was das Wort bedeutete.
    »Ich bin eine Cortigiana, Hannah. Du musst doch wissen, was das ist. Es gibt Tausende wie mich in Venedig, die um dieselben wohlhabenden Beschützer werben. Wir alle brauchen eine Spezialität, und meine ist es, mich wie ein gutaussehender Junge in engen Hosen zu kleiden.« Sie hakte die Daumen hinter die Aufschläge ihrer Satinjacke und verneigte sich leicht. »Ich gebe Männern das Vergnügen der Erfahrung, ohne dass sie ein Verbrechen begehen müssen. Die Strafe für Unzucht beträgt fünfzig Dukaten, beim ersten Mal, wenn du ein Cittadino bist, ein Bürger der Stadt Venedig. Wenn du von Adel bist, dann …« Jessica machte eine schwungvolle Bewegung mit zwei Fingern über ihre Kehle. »Du findest mich zusammen mit allen anderen ehrbaren Kurtisanen Venedigs im Catalogo: Adresse, Preise, Spezialitäten und sogar eine schmeichlerische Miniatur von mir in Tempera.« Sie sah ihre Schwester durchtrieben an, aber die schaute weg. »Du bist nicht gut darin, deine Gefühle zu verbergen. Ich kann sehen, dass dir meine Worte wehtun.«
    Natürlich hatte Hannah gewusst, dass Jessica eine Kurtisane war, aber keine Einzelheiten über das, was sie tat. Der Gedanke, dass sie Männern gefiel,

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