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Die Hebamme von Venedig

Die Hebamme von Venedig

Titel: Die Hebamme von Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberta Rich
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beibehielt, hatte Hannah keine Hoffnung, ihn einzuholen, dann erreichte er problemlos das offene Wasser der Lagune und konnte nach Murano, Burano oder Torcello fahren.
    Der Boden war glitschig, und sie musste langsamer werden, wenn sie nicht ausrutschen und sich die Knie aufschlagen wollte. Sie versuchte, Niccolòs Ziel zu erraten. Konnte es sein, dass er zum Arsenale wollte, der riesigen Schiffswerft? Oder zu den Anlegern von Castello, dem Armenviertel, in dem vor allem Werftarbeiter wohnten? Aber nein, das lag doch beides in der anderen Richtung! Und dann, als sie ihre Verfolgung schon aufgeben wollte, wurde die Gondel vor der Kirche San Marcuola langsamer. Niccolò änderte die Richtung und duckte sich unter einer Brücke durch. Sie wäre jetzt nahe genug gewesen, um Matteos Schreie übers Wasser hallen zu hören, aber da war nichts.
    Niccolò bog westlich in den Rio di San Girolamo, legte an der Calle de Ormesini an und vertäute die Gondel an einem Poller. Hannah duckte sich hinter eine Säule, als er ausstieg.
    Nachtnebel senkte sich über die Stadt, so dass es Hannah unmöglich war zu erkennen, ob Niccòlo Matteo unter seinem Mantel versteckt hielt oder ob er ihn in der Gondel zurückgelassen hatte. Niccolò schritt die Calle hinunter, und Hannah gab ihm ein Stück Vorsprung, bevor sie sich erneut an seine Verfolgung machte.
    Mittlerweile hätte Matteo eigentlich schreien müssen, ob nun vor Hunger oder wegen einer nassen Windel, doch unter Niccolòs Mantel drang kein Laut hervor. Hannah schloss näher zu ihm auf, und gerade, als sie dachte, dass er das Baby tatsächlich auf der Gondel zurückgelassen haben musste – wenn es nicht tot war –, stolperte Niccolò über einen Festmachhaken und landete fluchend auf einem Knie. Der Ruck musste Matteo aufgeschreckt haben, denn ein kleiner Fuß stieß aus dem Mantel hervor, und sie hörte einen Schrei.
    Bei Tage hätte der Anblick eines Adligen, der mit einem Baby durch die Gassen lief, die Leute stutzig gemacht, doch die Straßen lagen verlassen da, und die wenigen Passanten waren zu sehr darauf bedacht, möglichst schnell und sicher nach Hause zu kommen, als dass ihnen etwas aufgefallen wäre. Eine vorbeifahrende Bestattungsgondel mit schwarzen Vorhängen ließ kleine Wellen gegen die Stufen eines Traghetto-Anlegers schwappen. Hannahs nackte Füße waren taub vor Kälte.
    Niccolò bog in die Calle Farnese, und Hannah begriff mit einem Ziehen im Magen, wohin er wollte. Als er die Stufen zum Ponte del Ghetto hinauflief, gab es keinen Zweifel mehr. Die Brücke führte direkt ins jüdische Ghetto.
    Hannah folgte Niccolò über die Brücke. Vicente lag schlafend in seinem provisorischen Verschlag, eine halbleere Flasche Wein neben sich. Normalerweise hätte er längst die eiserne Stange vor das schwere Holztor gelegt und die Riegel geschlossen gehabt, aber heute hatte er seinen Lohn bekommen, was bedeutete, dass sein Geldbeutel voll genug war, um sich mit Wein einzudecken. Das Tor stand offen, und jeder konnte hindurchschlüpfen. Vicente wachte nicht auf, als Niccolò an ihm vorbeilief, und auch bei Hannah rührte er sich nicht, trotzdem versteckte sie ihr Gesicht hinter ihrem Schal.
    Niccolò überquerte den Campo, verschwand unter dem Sotopòrtego, passierte die geschlossene Banco Rosso, die Büros der Geldverleiher, wo Isaak einst neben den bärtigen, dunkelhäutigen Männern gearbeitet hatte, die, ständig über ihre Waagen gebeugt, bucklig geworden waren und die Gesichter verzogen, selbst wenn sie keine Lupen im Auge hielten.
    Der Campo war so ruhig, dass sie hören konnte, wie jemand irgendwo im ersten Stock in einen Nachttopf urinierte. Niccolò lief voran und schien zu wissen, wohin er wollte. Hannah eilte ihm hinterher, seinen Rücken fest im Blick und voller Angst, ihn zu verlieren oder von ihm entdeckt zu werden.
    Er kam an der Scuola Italiana und an der Midrasch vorbei, wo der Rabbi morgens Hebräischunterricht gab.
    Niccolò bog in eine schmale Gasse, die voller zum Trocknen ausgebreiteter Wäsche hing und kaum breit genug für einen gut gebauten Mann war. Hannah wusste, dass sie unversehens am Rio di San Girolamo endete.
    Niccolò hielt das Kind vor seiner Brust, um nicht an den sich vorneigenden Wänden der Häuser links und rechts hängen zu bleiben. Drei Stufen führten am Ende der Gasse zum Wasser hinunter. Hannahs Erleichterung darüber, dass sie Niccolò nicht verloren hatte, machte Entsetzen Platz. Wollte er Matteo ins Wasser werfen? Sie blieb

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