Die Hebamme von Venedig
angetreten.«
Nie hatte sich Hannah so schutzlos gefühlt. Sie zog das Bettzeug auf ihren nackten Körper. Morgenschatten legten einen Schleier über das Zimmer. Sie wünschte, unsichtbar zu sein.
»Soll ich sie hereinlassen?«, fragte Jessica. »Was, wenn ich einfach hier bei dir bleibe? Vielleicht geben sie auf und ziehen wieder ab.«
»Dann verschaffen sie sich mit Gewalt Zutritt.« Hannah sah die beiden großen Flügelfenster unten vor sich. Es würde sie wenig Aufwand kosten, ins Haus zu gelangen. Hannah war voller Angst. Wie dumm, zu glauben, dass wir irgendwem etwas vormachen können, dachte sie.
»Weißt du noch, was Isaak immer gesagt hat? Wenn einem keine Wahl bleibt, muss man all seinen Mut zusammennehmen«, sagte Jessica.
Damit ging sie hinaus und raffte die Röcke, um auf der Treppe nicht zu stolpern.
Hannah zog die Vorhänge des Himmelbetts um sich herum zu und ließ nur eine kleine Lücke, durch die sie hinaussehen konnte. Sie hustete, halb erstickt von ihrem eigenen Gestank. Nur eine einzige Kerze flackerte auf dem Nachttisch. Hannah fuhr Matteo durchs Haar und spürte den stetigen Schlag seines Herzens wie den eines Vogels neben dem eigenen.
Unten erklang die Glocke aufs Neue, viermal kräftig gezogen von derselben ungeduldigen Hand. Hannah hörte, wie sich die Tür knarzend öffnete.
»Ist dies das Haus von Jessica Levi?«, wollte eine männliche Stimme wissen. Jessica antwortete etwas, das Hannah nicht richtig verstehen konnte. Die Tür schloss sich. Schwere Stiefel überquerten den Steinboden der Diele.
Und dann hörte Hannah, die inständig hoffte, Matteo würde nicht aufwachen, drei Personen die Treppe heraufkommen, zwei schwere Männer und die leichtere Jessica. Jessica redete zu schnell, was sie stärker als gewöhnlich lispeln ließ.
»Ihr bringt Euer Leben in Gefahr, indem Ihr hier hereinkommt. Habt Ihr das Kreuz auf der Tür nicht gesehen?«
Die Schritte wurden lauter. »Meine Schwester hat die Pest, Euer Gnaden. Eure Pestkleidung wird Euch nicht ausreichend schützen.«
Jetzt waren sie vor der Tür und gleich würden sie hereinkommen. Hannah fuhr mit der Hand unter das Kissen und fühlte die Kühle des Messers, vorsichtig darauf bedacht, Matteo nicht zu wecken. Sie zog die Decke so, dass ihre schlimmsten Entzündungen sichtbar wurden, und schloss halb die Augen.
Aber da kam nicht der dickliche Jacopo herein, sondern ein großer, dünner Mann im Anzug eines Pestdoktors, eine schnabelartige Maske vor dem Gesicht. Hannah fuhr sich mit der Hand an den Mund. Ihre Angst wurde so groß, dass sie aufspringen und durchs Fenster hinaus in den Kanal springen wollte, aber ihre Beine waren wie aus Stein. Hannah sah, dass der Mann ein silbernes Medaillon um den Hals hängen hatte. Es war der Untersuchungsrichter aus dem Stab der Prosecuti.
Der schwarze Mantel des Richters reichte ihm bis zu den Füßen und war mit Tierfett eingerieben, um eine Ansteckung abzuwehren. Der breitkrempige schwarze Hut, den er sich tief in die Stirn gezogen hatte, ließ kein Fleckchen Haut an Hals oder Schläfen frei, und die lange Schnabelmaske bedeckte den ganzen oberen Teil des Gesichts. Im düsteren Licht schienen seine Augen ohne Iris zu sein. Der Mann wandte sich dem Bett zu und sah Hannah an.
»Seht doch nur. Glaubt Ihr mir jetzt?«, sagte Jessica. »Sie wird nicht mehr lange auf dieser Welt weilen und verdient Ruhe und Frieden.«
Der Untersuchungsrichter hörte nicht auf Jessica, sondern näherte sich dem Bett. Wenige Schritte davor blieb er stehen. Hannah sah Jacopo mit einem Taschentuch vor Mund und Nase gedrückt auf der Schwelle stehen. Mit einem langen Stock schob der Richter die Bettvorhänge zur Seite, nahm die Kerze vom Nachttisch und hielt sie in die Höhe, hob dann mit dem Stock die Decke an, betrachtete Hannahs Beine und Bauch und das Kind, das reglos neben ihr lag.
Es war unmöglich zu sagen, wie alt der Richter war. Er hatte einen leichten Buckel, und ja doch, er musste alt sein, vielleicht vierzig oder fünfundvierzig Jahre. Hannahs Haut kribbelte im kalten Zug vom Fenster. Sie zitterte. Dieser Mann würde weder Zeit noch Geld mit Prozessen vergeuden. Die Hinrichtungen der Prosecuti waren geheime, schnelle Geschichten, die im Dunkel der Nacht vollzogen wurden. Der Untersuchungsrichter konnte sie sofort töten lassen, wenn er wollte.
»Ich bin gekommen, um den Mord an Niccolò di Padovani und den Vorwurf der Hexerei gegen sie, Hannah Levi, zu untersuchen«, sagte er. »Ich bin Richter
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