Die Hebamme von Venedig
Was hat das mit seiner Frau zu tun?« Er setzte sich auf dem Holzstumpf zurecht und schob sich den Hut in den Nacken.
Isaak bedeutete ihm mit einer Geste, dass er noch nicht fertig war. »Sofort wurden die Juden beschuldigt. Die Priester wiegelten den Pöbel auf: ›Tötet die Juden. Vergießt ihr Blut!‹ Ein Massaker war so gut wie sicher. Die Menge wollte ins Ghetto, den Männern die Köpfe abschneiden und den Kindern die Eingeweide herausreißen. Die Juden bereiteten sich auf die Flucht vor, die gesamte Gemeinde stand kurz vor ihrer Auflösung. Häuser würden verloren gehen, Geschäfte zerstört werden, die Kranken und Alten ohne Schutz bleiben.« Isaak machte eine Pause. »Da plötzlich kam ein Bote auf den Platz gerannt. ›Sorgt euch nicht, ihr Juden!‹, verkündete er. ›Ich habe wunderbare Nachrichten: Die tote Frau war eine von euch!‹«
Hector verzog das Gesicht. Ihm schien unbehaglich zumute zu sein.
Isaak beugte sich vor und fasste seinen Arm. »Versteht er mich jetzt? Meine Hannah ist vielleicht schon tot.«
»Isaak, es gibt einen Ausweg. Wenn er mir nur zuhören wollte.«
»Wie?«, fragte Isaak.
»Der Rabbi hat es geschafft, von privaten Wohltätern das Geld für seine Freilassung zu bekommen. Es gibt da nur eine Bedingung …« Hector hielt inne.
»Und die wäre?«
»Dass er sich von seiner Frau scheiden lässt.«
War die Welt jetzt völlig verrückt geworden? Isaak packte Hector beim Kragen und kämpfte gegen den Drang, ihn zu würgen. »Eher würde ich mir den Arm abschneiden! Sag er dem Rabbi, wenn ich mich für seine Hilfe scheiden lassen muss, kann er seine Dukaten einem Schwein in den Hintern schieben!« Er ließ Hector los und musste wegen des Staubs, den er aufgewirbelt hatte, heftig husten.
Hector schnappte nach Luft. »Es tut mir leid«, sagte er und bereitete sich augenscheinlich schon auf seinen nächsten Schlag vor. »Ich habe die klare Anweisung, keine Verhandlungen wegen seiner Freilassung aufzunehmen, solange er mit Hannah verheiratet ist. Seine Frau hat den Rabbi tödlich beleidigt, indem sie …«
»… einer Christin bei der Geburt geholfen hat.«
»… ihm nicht gehorcht hat.«
»Dann ist der Rabbi genauso mein Feind wie die Ritter«, sagte Isaak.
»Niemand kann dem Rabbi trotzen, Isaak. Er wird sich seinem Willen beugen müssen. Warum lässt er sich nicht scheiden und heiratet sie dann erneut?«
»Das ist unmöglich. Nach jüdischem Gesetz können Mann und Frau nach einer Scheidung nicht wieder heiraten.« Wenn Isaak den Get, das offizielle Gesuch, geschieden zu werden, unterschrieb, würde es Hannah mitgeteilt werden, und dann entschied das aus drei Rabbis bestehende Rabbinatsgericht nach Würdigung des Falles, ob dem Gesuch stattgegeben oder ob es abgelehnt wurde. Unter Vorsitz von Rabbi Ibrahim bestand keine Frage, wie die Sache ausgehen würde. Isaak rieb sich das Gesicht. Heiße, wütende Tränen rannen ihm über die Wangen.
»Eure Gesetze sind dazu gemacht, Unglück zu schaffen«, sagte Hector.
Isaak zuckte mit den Schultern, er war zu niedergeschlagen, um zu streiten. »Er hat sein Recht auf eine eigene Meinung. Der Rabbi drängt mich schon seit Jahren zur Scheidung, weil Hannah mir noch kein Kind geschenkt hat. Jetzt hat er mich in den Fängen wie ein Adler ein unschuldiges Lamm. Er und ich waren noch nie einer Meinung, ob es um den Preis für ein Fass eingelegter Fische oder die Zahl der Männer ging, die zum Morgengebet in die Synagoge kommen. Aber das jetzt? Das geht zu weit.«
Isaak schlug sich mit der Faust in die offene Hand, und Hector wich ein Stück zurück. Wie befriedigend es doch wäre, wenn der Rabbi jetzt statt dieses netten, aber nutzlosen Hectors hier vor ihm säße. Isaak stellte sich vor, wie er ihn bei der Gurgel packen und so lange mit den Daumen auf den Adamsapfel drücken würde, bis auch noch das letzte Stückchen Leben aus dem vertrockneten alten Körper gewichen war. Isaak ballte die Finger zusammen, dass die Knöchel knackten.
»Hector, ich weiß, er ist nur der Überbringer der Nachricht. Ich bin ihm nicht böse.« Wieder lief er auf und ab und wirbelte mit seinen rissigen, verschwielten Füßen Schmutz auf. Er hatte sich noch nie so wehrlos gefühlt.
Hector trat zu ihm und fasste ihn beim Arm. »Ganz ruhig, Isaak. Sehe er sich an, was ich in meiner Satteltasche habe«, sagte er und ging zu seiner Mähre. »Vielleicht ändert er ja noch seine Meinung.« Er holte ein Bündel Papiere hervor, das von einem Band
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