Die Hebamme von Venedig
Risiko einer falschen Entscheidung ist dem Schrecken der Unschlüssigkeit vorzuziehen. Was blieb ihm auch für eine Wahl?
Und während er sich noch sorgte, wie er sich unter den aufmerksamen Augen der Wachen an Bord würde schleichen können, kam ihm eine Idee. Isaak sammelte einen Armvoll trockenen Tang und Zweige und packte beides in den Bug des Bootes, der ihm noch am besten vor Feuchtigkeit geschützt schien. Schließlich schob er die Piroge durch die nicht mehr ganz so heftig anbrandenden Wellen, sprang hinein und ruderte mit aller Kraft los. Die Muskeln in seinem Rücken spannten sich in äußerster Anstrengung, aber er fuhr im Kreis, und erst, als er es etwas ruhiger angehen ließ und sich darauf konzentrierte, die Ruder gleichmäßig durchs Wasser zu ziehen, vermochte er Kurs auf die Provveditore zu nehmen. Er hatte das Gefühl, ewig so mit dem Meer zu kämpfen, ohne wirklich voranzukommen. Im Osten kündigte sich schließlich der Tag an und warf sein erstes schwachrotes Licht übers Wasser. Es begann zu dämmern, und bald schon war es hell genug, dass er im Morgennebel die Mannschaft der Provveditore an Deck kommen sehen konnte. Das Schiff würde jeden Moment den Anker heben. Er kam zu spät.
Kapitel 22
H annah klammerte sich an die Reling der Balbiana . Sie trug eines von Jessicas blauseidenen Kleidern, in dem sie wie eine Christin aussah. Es war ein einigermaßen schicklich geschnittenes Kleid, das sie in der Cassone ihrer Schwester gefunden hatte und das deren vertrauten Geruch nach Zitrone und Bergamotte verströmte. Hannah standen Tränen in den Augen.
Vom Palazzo der di Padovanis aus hatte sie sich zurück in Jessicas Haus gestohlen und Kleider, ihre Geburtslöffel, die Dukaten und etwas Essen in einen Koffer gepackt. Von den zweihundert Dukaten des Conte blieben ihr noch hundertfünfzig, nachdem sie die Überfahrt nach Malta und den Proviant für die Reise bezahlt hatte. Ob das ausreichen würde, um für Isaaks Freilassung aufzukommen, wusste sie nicht.
Wenn sie nur die Ziege mit aufs Schiff hätte bringen können. Sie wusste nicht, wie sie Matteo während der langen Reise ernähren sollte, die je nachdem, wie die Winde bliesen, mehrere Wochen dauern konnte. Aber bis vor kurzem hatte sie ja nicht einmal gewusst, ob das Schiff nicht schon längst abgelegt hatte oder – falls nicht – womöglich unter Quarantäne gestellt war. Sie hatte keine Zeit gehabt, lange zu zaudern, geschweige denn, zu trauern, sondern hatte handeln müssen. Gott sei Dank war sie gleich auf einen Gondoliere gestoßen, der sie und Matteo für eine stattliche Summe, mit der sie sich gleichzeitig sein Schweigen erkaufte, zur Anlegestelle brachte. Und Gott sei Dank – die Balbiana war das letzte Schiff, das noch auslaufen durfte. Auf Beschluss des Rates der Zehn sollte der Hafen anschließend geschlossen werden.
Milch, dachte sie, während sich das Deck des Schiffes unter ihr hob und senkte, sie musste Milch für Matteo finden. Die Ziegenmilch, die sie hatte mitnehmen können, würde höchstens noch einen Tag reichen. Der Kleine war schwach. Seit sie abgelegt hatten, hatte er nicht mehr geschrien.
Wenn sie doch nur Jessica fragen könnte, die wüsste sicher, was zu tun wäre. Aber ihre Schwester würde bald schon in einem Massengrab auf der Laguneninsel Lazzaretto Vecchio landen, zusammen mit zahllosen Pestopfern. Hier auf dem rastlos sich wiegenden Deck des Dreimasters gab es keine Amme, nicht mal eine Ziege, die Milch für das Baby hätte geben können.
Die Passagiere, Griechen, Armenier, Türken, Perser und Venezianer, drängten sich an der Reling, um die Türme von San Marco in der Ferne verschwinden zu sehen. Neben Hannah stand ein alter Mann, ein Armenier, der in einen weiten Kaftan gekleidet war und offenbar unter einem Katarrh litt. Hannah stellte sich auf eine Rolle Hanfseil, um besser über die Reling sehen zu können. Eine Hand auf dem Holz vor sich und Matteo auf dem Arm, sah sie zu, wie die Basilica di San Marco kleiner und kleiner wurde.
Durch das Reden der Leute, das Schreien der Möwen und das Knarzen von Segeln und Rahen hindurch drang der Klang der Marangona zu ihnen herüber, die sechs Uhr schlug und den Beginn des Tages verkündete. Im Osten wuchs der feurige Ball der Sonne aus dem Meer und stieg über Gipfel, Kuppeln und Türme. Auf Höhe der Kuppeln von San Marco schien er kurz zwinkernd innezuhalten, während das Wasser wie zum Applaus gegen die Bordwand klatschte. Im Westen brachen sich die Wellen
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