Die Hebamme von Venedig
am Ufer der Insel Giudecca, die sich wie das Rückgrat eines Seeungeheuers aus den Fluten hob. Das Wasser in der Laguna Veneta war kabbelig, und der Wind warf weiße Ränder auf die azurblauen Wellen.
Über Hannah blähten sich die drei großen Segel der Balbiana und fielen gleich wieder schlaff herunter, als der Wind unvermittelt aussetzte. Er schien sich an diesem Morgen nicht entscheiden zu können, ob er sie voranblasen sollte, sondern kam und ging ohne Muster. Eine Böe wehte ihr das Ende ihres roten Schals in den Mund. Sie befreite sich davon und ließ den Blick von ihrer erhöhten Warte aus über die Leute gleiten.
Matteo begann zu quengeln.
»Ich habe dich bei deiner Geburt gerettet und vor deinen Onkeln, aber jetzt frage ich mich, ob es mir noch einmal gelingen wird.« Er war blass und schien ohne jede Kraft, als Hannah ihn von einem Arm auf den anderen nahm. Sie legte ihm den Schaddai um den Hals. Sollte ihr der Junge nach all den Anstrengungen nun am Hungertod sterben?
Hannah hielt die Hand über die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, und musterte eine Frau nach der anderen, und da, auf der anderen Seite des Decks, sah sie eine Dame, eine Venezianerin, wenn sie nach dem Samtkleid und den zwei blonden Haarkrönchen urteilte, die ein kleines Bündel in den Armen hielt. Hannah stieg von ihrem Ausguck und schob sich zu ihr hinüber. Sie wollte ihr schon eine Hand auf den Arm legen, als sie einen genaueren Blick auf das Bündel werfen konnte und sah, dass es sich nicht um ein Kind, sondern einen braunen, in weißes Musselin gehüllten Spaniel handelte. Sie wich zurück und trat dabei einer anderen Frau auf die Füße, und um ein Haar wäre Hannah mit Matteo gestürzt, wenn die Frau sie nicht rechtzeitig bei der Schulter gefasst hätte.
Diese Frau trug eine Pelisse, einen bodenlangen Umhang aus grüner Seide, der so wunderbar schimmerte wie das Gefieder eines edlen Vogels. Ihr Gesicht wurde von einem Schleier verhüllt, der Hannah nicht mehr sehen ließ als die schwarzen Augen.
Hannah lächelte und entschuldigte sich.
»Maschallah« , sagte die Frau, und Hannah erwiderte ihren Gruß, worauf sich ihr Gegenüber vorbeugte, Matteo betrachtete und ihn unter dem Kinn kitzelte. Als er darauf nicht reagierte, sagte die Frau: »Euer Kind ist krank, Hanimefendi. Es bewegt sich kaum.«
»Ich habe keine Milch.«
»Möge Allah Mitleid mit ihm haben. Wo ist seine Amme?«
»Das ist eine Geschichte, die sich so schnell nicht erzählen lässt, und ich habe nur noch etwas Ziegenmilch in einer Flasche, die langsam sauer wird. Einen Tag reicht sie noch, länger nicht.«
»Ist es ein Junge?« Als Hannah nickte, sagte die Frau: »Was für ein Geschenk.« Sie zuckte leicht mit den Achseln. »Ich habe zu meinem Bedauern bisher nur Mädchen bekommen. Sechs schöne, aber nutzlose Mädchen.«
»Vielleicht beim nächsten Mal.« Hannah staunte, wie perfekt die Frau Venezianisch sprach, mit nur einem ganz leichten osmanischen Akzent.
Die Frau klopfte sich auf den Bauch und zuckte mit den Schultern. »Aber wie entkommt man Allahs Willen?« Sie neigte den Kopf und sagte: »Ich heiße Tarsi.« Eine Windböe drückte ihr das Gewand gegen den Körper, und Hannah sah, dass sie jene etwas plumpe, sinnliche Üppigkeit besaß, die ihr schon oft an türkischen Frauen auf dem Markt von Dorsoduro aufgefallen war.
»Ich heiße Hannah.«
»Vergebt mir, wenn ich das sage, Hannah, aber meint Ihr nicht, dass es etwas leichtsinnig war, sich ohne eine Amme auf solch eine Reise zu begeben?«
»Mir blieb keine andere Wahl.«
»In diesem Zustand kann ihn schon ein leichtes Fieber oder eine Grippe dahinraffen.«
Hannah wollte schon antworten: Haltet Ihr mich für so einfältig, dass ich das nicht weiß? , sagte stattdessen aber: »Bis vor ein paar Tagen habe ich ihn noch stillen können, aber dann kam plötzlich keine Milch mehr, und es war zu spät, noch eine Amme zu finden, die hätte mitreisen können.« Die Lüge kam ihr leicht von den Lippen. Tatsächlich war ihr rein gar keine Zeit für Pläne oder Vorkehrungen geblieben, es war allein darum gegangen, es noch rechtzeitig und unbehelligt auf die Balbiana zu schaffen.
»Ihr habt ihn selbst gestillt?«, fragte Tarsi. Der Gedanke schien sie zu erstaunen.
Jessica hätte gewusst, wie sie mit einer Frau wie ihr umgehen sollte. Ein Klaps mit dem Fächer auf den dicklichen Arm der Frau, und Tarsi hätte ihre Überheblichkeit abgelegt.
»Ich habe erst vor einem Monat meine letzte
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