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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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Halsbeuge.
    Wenn dies das Glück war, warum machte es ihn dann so traurig?

Vier
    APRIL 1799
    Mit den Gefängnissen in Marburg war das so eine Sache. Es schien sich um eine schwer lösbare Angelegenheit zwischen dem Landesherrn, Bürgerschaft und dem Rat der Stadt zu handeln, wo Gefangene am besten unterzubringen seien.
    Verurteilte Schwerverbrecher lagen im Stockhaus des Marburger Schlosses in Ketten, doch ihre Zahl hielt sich in diesen Zeiten erträglich niedrig, man kam mit den notdürftigen Kerkerplätzen aus. In Eisen geschlagen wurden nur Männer.
    Andere Gefängnisse fanden sich mit den Jahren in verschiedenen Torhäusern, allesamt in beklagenswert schlechtem Zustand. Die Arrestkammern waren nicht einmal vergittert, und man verwendete sie für Sträflinge, die sich geringfügiger Vergehen schuldig gemacht hatten, für ungehorsame Bürger, die einer kleinen Korrektur ihres Charakters bedurften.
    Daher hielt man es für geradezu schändlich, dass man solche Arrestanten zuweilen mangels anderer Möglichkeiten gemeinsam mit den groben Sündern im Weißen Turm einsitzen lassen musste. Der ehemalige Geschützbau diente schon seit Jahrhunderten als Kerker, und wer hier auf der Nordseite des Schlosses in einem seiner ebenerdigen Verließe saß, der war ein Verstoßener, ein ehrloser Mensch. Das traf auch auf jene zu, die noch darauf warten mussten, vor Gericht gestellt zu werden. Wer im Weißen Turm saß, wurde einer Schuld verdächtigt, die so schwer wog, dass um jeden Preis eine Flucht zu verhindern war.
    Und davon betroffen waren auch Frauen. Im Besonderen solche wie Lene, denn schließlich war sie eines Verbrechens angezeigt, für das noch immer der Tod durch das Schwert drohte. Man bezichtigte sie eines Verbrechens, wie es kaltblütiger nicht sein konnte.
    Und feige. Grausam. Herzlos.
    Lene schlug ihren Kopf gegen die Mauer.
    Feige. Grausam.
    Es war genau so gekommen, wie sie es vorhergesehen hatte: Niemand glaubte ihr. Die Verhöre lagen Tage zurück, vielleicht Wochen? Sie hatte jedes Gefühl verlieren wollen, aber es war ihr nur das für die Zeit abhanden gekommen.
    »Wenn sie ihr Kind nicht getötet hat, warum ist sie dann gesprungen? Man wird jeden Arm der Lahn absuchen, man wird mit Stöcken den Grund aufwühlen und mit wachen Augen die Ufer abschreiten lassen.« Das hatten sie gesagt. Drohend, als könnte ihr noch etwas Angst machen.
    Tut es! Ich will euch helfen. Ich will doch wissen, wo er ist.
    Ein kleiner weißer Körper. Sie hebt ihn aus dem Wasser, und es stört sie nicht, dass er so kalt ist. Es stört sie nicht, dass er tot ist. Wichtig ist, dass sie ihn sehen kann.
    Lene riss die Augen auf. Es brannte darin.
    »Sie weint nicht einmal! Habt Ihr es bemerkt, Ihr Herren? Ich habe die Person noch nicht eine Träne vergießen sehen.«
    Jetzt habe ich Tränen aus Blut. Doch wer will das schon wissen?
    Die Verhöre hatten ihr gezeigt, dass sie alles schon wussten. Marietta hatte es ihnen erzählt. Marietta hatte geweint. Ihr hatten sie geglaubt.
    Graues Tageslicht fiel durch die vergitterte Fensteröffnung, die so klein war, dass sie Lenes Gesicht gerade als Rahmen hätte dienen können. Doch sie hielt sich vom Gitter fern. Sie hätte auf die Pritsche steigen können, um zu sehen, ob die Sonne schien, ihr aber war es schon unerträglich genug, die Vögel in den Bäumen des verwilderten Schlossgartens zu hören. Lene fror.
    Es schien ihr, als seien ihre Kleider nicht mehr getrocknet, seit die Jungen sie aus dem Wasser gezogen hatten. Es mussten Schweinehirten gewesen sein, sie erinnerte sich an das aufgebrachte Quieken der Tiere, als die Jungen sie ans Ufer zerrten. Sie hatte die Nähe der Jungen gespürt, die sich danach nicht mehr trauten, sie anzufassen. Sie hörte die schmatzenden Tritte der Schweine auf dem feuchten Boden und weiter oben die Räder eines Fuhrwerks, das auf der Brücke zum Stehen kam. Dann hörte sie eine vertraute Stimme.
    Nie war ihr aufgefallen, wie warm Eugen Schrickers Stimme eigentlich war, und sie hatte es sofort wieder vergessen. Er hob sie hoch, als hätte sie kein Gewicht, und für einen Moment hatte sie gehofft, dass sie vielleicht doch gestorben war. Doch dann lag sie auf dem strohbedeckten Holzboden des Fuhrwerks, und als es sich rüttelnd in Bewegung setzte, rollte ihr Körper wie ein kalter Klumpen Lehm gegen die leeren Transportkisten des Töpfermeisters. Wenn sie die Augen aufmachte, sah sie etwas von dem wolkenlosen Himmel.
    Dann hatte sie Marietta gesehen.
    Sie

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