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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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erinnerte sich nicht mehr an den Ausdruck ihres Gesichts. »Wo ist das Kind?« Marietta hatte geflüstert, aber es war schlimmer gewesen als ein Schrei. Lene hörte es seitdem immer wieder, und manchmal sprach sie die Worte mit. Auch jetzt bewegte sie die aufgesprungen Lippen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Wie vor einigen Tagen, die möglicherweise Wochen waren. Da hatte sie auch geschwiegen. Dafür hatte Marietta angefangen auf sie einzuschlagen, um sie zum Reden zu bringen.
    Eugen Schricker, der brüllte, dass an diesem Morgen alle Weibsbilder verrückt geworden waren, hatte einige Mühe gehabt, seine Frau vom Wagen wegzubringen. Lene hatte stumm dagelegen, während sich die Stimmen der beiden vermengten und über ihr entluden wie ein heftiges Gewitter. Sie war auch stumm geblieben, als man sie zum Verhör in die Stube der Marktwache brachte. Sie hatte den Kopf bewegt. Ja. Nein. Verstockte Person.
    Ihre Zähne schlugen aufeinander. Als sie das Krachen des Schlüssels in der Zellentür hörte, richtete sie sich nicht auf. Sie blieb in der Ecke auf dem klammen Strohsack sitzen, wie sie es immer tat, wenn sie wach war. Sie rührte sich nicht, wenn der Schließknecht die Brotsuppe brachte, die sie nicht essen würde. Sie rührte sich nicht, wenn er sie aufforderte, ihr Nachtgeschirr in den Eimer zu entleeren. Seine Flüche waren ihr gleichgültig. Und als er irgendwann damit aufgehört hatte, den türlosen Eisenofen zu befeuern, war es ihr nur recht gewesen. Die Kälte hielt den Schmerz von ihr fern, der überall in ihrem Körper lauerte. Auf der Stirn und an den Schläfen, wo das Blut getrocknet war, an der aufgerissenen Haut ihrer Füße und Hände, in ihren entzündeten Brüsten, aus denen jetzt keine Milch mehr floss, sondern Eiter. Sie hatte das Wasser nicht benutzt, das man brachte, damit sie den Gestank von sich fortwaschen konnte. Was aus ihrem Körper rann, roch wie etwas Totes, und sie hatte sich daran gewöhnt, dass es zu ihr gehörte.
    Lene achtete kaum auf den fremden jungen Mann, der ihre Zelle betrat. So fiel ihr nicht auf, dass er einen schwarzen Anzug und eine Ledermappe trug. Sie bemerkte nicht, wie erschrocken er war. Auch seine Unsicherheit entging ihr, sie hörte nur, dass er sich bei seinen ersten Sätzen oft räusperte.
    Dann geschah etwas Ungewöhnliches.
    Er setzte sich zu ihr auf die Pritsche. Er würde sie verteidigen. Wovon redete er? Er sprach weiter, obwohl sie ihn gar nicht verstehen konnte. Ein Geräusch, das aus ihrer Kehle kam, hinderte sie daran. Es war ein merkwürdiges, trockenes Krächzen. Der Mann stand nicht auf, er ging nicht weg. Er hielt ihr ein schneeweißes Tuch hin, und erst jetzt kam ihr zu Bewusstsein, dass sie weinte.

    Die alte Haushebamme blieb regungslos hocken, als der dünne Ton der Türglocke zum wiederholten Mal zu hören war. Ihre Knochen schmerzten, und Anna Textor hatte das hässliche Gefühl, für immer in den Lehnstuhl gezwängt zu sein, in dem sie eingenickt sein musste. Die Wärme des Herdfeuers hatte sie wohl müde gemacht, jetzt aber war die Luft abgekühlt und die schwache Glut nur noch dazu nütze, den Rauchfang und die Wandborde als dunkle Stellen neben ihr aufragen zu lassen. Für einen vagen Moment kam es Anna Textor vor, als befände sie sich in einer Felsspalte.
    Sie verfluchte sich dafür, dass sie in der Küche eingeschlafen war, denn ihre Medizin befand sich oben in ihrer Kammer. Das war umständlich und ließ sie täglich einige Wegstrecken zurücklegen im Haus, aber alles andere war zu riskant. Einmal hatte sie den Hausknecht erwischt, als er vor dem gemauerten Herd kniete. Angeblich wollte der Blödkopf nur das Brennholz in die dafür vorgesehene Öffnung stapeln, doch sie war sicher, dass er die Flasche hinten in der Nische entdeckt und sich bereits bedient hatte. Gesagt hatte sie nichts, aber sie war gewarnt und zog ihre Schlüsse daraus.
    Wieder hörte sie die Türglocke, zaghaft und zitternd, sodass sie hoffte, es könnte gleich aufhören. So oder so, sie musste aufstehen, nicht nur wegen der eiligen Schritte, die sich oben von der Treppe näherten. Jetzt wurde auch noch geklopft da draußen, und das war Anna Textor lästig. Es belästigte sie ebenso wie das Getue der beiden Schülerinnen am Nachmittag, als sie so getan hatten, als sei in der Vorratskammer nichts zu finden, woraus man eine Mahlzeit hätte kochen können.
    Sie hatte ihnen gründlich die Meinung gesagt. Wollten sie der letzten Wöchnerin, die sie hier hatten und die

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