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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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morgen mit ihrem Balg gehen würde, wollten sie der vielleicht zum Abschied ein üppiges Mahl auftischen? Sollte sie noch ein Huhn einfangen oder, besser, ein Schwein schlachten lassen?
    Sie hatte sich nicht gescheut, laut zu werden. Den Professor wusste sie ja bereits auf dem Heimweg, und wenn der nicht im Haus war, hatte sie das Sagen. So sah sie das.
    Als aber Doktor Heuser plötzlich in der Küche gestanden hatte, waren ihr doch vor Schreck die getrockneten Birnenscheiben auf den Boden gefallen. Sie steckte sich immer etwas Dörrobst in den Mund, um mögliche Gerüche zu überdecken, wenn die Herren das Wort an sie richteten. Nicht den geringsten Verdacht sollten sie schöpfen. Wie sie ihre Schmerzen zu kurieren hatte, wusste sie schließlich selbst am besten.
    Bei dem jungen Doktor konnte sie sich meistens darauf verlassen, dass er mit dem Kopf woanders war. Wie auch vor ein paar Stunden, als er in seiner gedankenverlorenen Art irgendwas sagte und dann das Haus verließ. Sie hatte erst gar nicht zugehört. Auch das freche Grinsen dieser Lotte war ihr egal gewesen, und die andere hatte nur auf den Boden gestarrt.
    Die Hebamme Textor wusste nicht, dass Lotte sich über sie lustig machte. Selbst wenn sie es gewusst hätte, wäre es ihr vermutlich egal gewesen, denn die Zeiten, in denen es ihr etwas bedeutet hätte, was andere über sie dachten, waren längst vorbei. Anna Textor wollte vor allem ihre Ruhe, und dazu verhalf ihr der Branntwein ebenso verlässlich, wie er das teuflische Ziehen in ihren Knochen milderte. Das hatte sie einem Winter im Armenhaus zu verdanken, nie wieder wollte sie dorthin zurück. Deshalb musste sie alle Schwierigkeiten vermeiden, wie es ihr bislang immer gelungen war.
    Draußen auf dem Gang konnte Anna Textor jetzt Stimmen hören, und sie stemmte sich aus dem Stuhl.
    »Was geht hier vor?«
    Die Frage war überflüssig, denn die Langwasser trat sofort zur Seite und hielt die Öllampe so, dass die Haushebamme den Zustand der Frau, der sie die Tür geöffnet hatte, erkennen konnte. Jung war die nicht mehr, ihr Gesicht war grau, der Mund zusammengepresst.
    »Geh nach oben«, befahl Anna Textor und nahm Gesa die Lampe ab. »Na, los doch, es gibt hier nichts für dich zu tun.«
    »Ich könnte Ihnen helfen, Frau Textor.«
    »Wobei? Das hier ist allein meine Aufgabe. Ich wüsste nicht, was es da zu helfen gibt.«
    Hinter ihr stieß die Schwangere den Atem aus, und Anna Textor leuchtete ihr in das verzerrte Gesicht.
    »Oder bist du etwa schon in den Wehen?«
    Die Frau schüttelte den Kopf und stützte sich im Gang mit einer Hand an der Wand ab.
    »Nein, ich glaube nicht«, sagte sie schnell. »Vielleicht hat mich das Laufen zu sehr angestrengt.«
    Vielleicht hatte sie das Laufen angestrengt. Sie, Anna Textor, wusste, wie anstrengend das Laufen sein konnte. Es strengte sie an, hier im kalten Gang zu stehen, es strengte sie an, die Lampe zu halten, und es würde sie gleich noch viel mehr anstrengen, die Treppe hinaufzukommen. Es würde sie anstrengen, sich nach dem Protokollbuch zu bücken und sich hinzusetzen. Es würde sie anstrengen, die Feder zu führen, um aufzuschreiben, was der Professor für wichtig hielt, über die Person zu erfahren. Es hatte schon Ärger gegeben, weil sie mal bei einer versäumt hatte zu fragen, wo ihre Leute wohnten. Ausgerechnet die hatte sterben müssen unter der Geburt, und sie wussten nicht, wohin mit dem Kind.
    »Gute Nacht«, hörte sie die Langwasser sagen. Es ärgerte sie, dass die immer noch dastand. Vielleicht ging ihr auch der tröstende Ton auf die Nerven.
    »Ob die Nacht gut wird, liegt allein in Gottes Hand«, sagte Anna Textor. Sie tastete nach dem Schlüsselbund und ließ die Schwangere nicht aus den Augen. »Wenn du Wehen hast, wirst du mir das sofort sagen – hast du verstanden?«
    Sie wartete, bis sich die Schritte der Schülerin entfernten. Dann schloss sie die Haustür ab.
     
    Gesa hatte nicht einen Moment daran gedacht, ins Bett zu gehen. Sie ließ die Tür ihrer Schlafkammer angelehnt und blieb dahinter stehen. Lotte schlief. Lotte konnte immer schlafen. Gesa musste lernen, auf den Schlaf zu warten wie auf einen viel beschäftigten Freund. Bis es so weit war, lernte sie, es in einem Haus mit fremden Menschen auszuhalten, mit ihren Ängsten und Träumen unter einem Dach zu sein. Nichts war mehr so, wie sie es kannte, selbst das Warten war ein anderes geworden.
    Sie lauschte auf die Geräusche aus dem unteren Stockwerk und schlüpfte hinaus auf

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