Die Hebamme
als Lambert ihre Hand ergriff und von seinem Arm löste.
»Hör zu, Mutter. Ich halte mich an unsere Abmachung, obwohl ich inzwischen denke, dass ich mich im vergangenen Jahr zu leichtfertig darauf eingelassen habe. Ich weiß, welche Verantwortung bei mir liegt, und ich werde mich ihr nicht entziehen. Du musst also nicht befürchten, dass ich deine Pläne durchkreuze. Ich heirate Therese. Aber lieben muss ich sie nicht.«
Er warf die Haare zurück. Aus seinen Locken lösten sich einige Wassertropfen und trafen Carolines Gesicht. Herr im Himmel, der Junge war wirklich ein Träumer. Es kam ihr nicht ungelegen, dass es so aussehen könnte, als weinte sie.
»Ich möchte noch einen Nachtspaziergang machen«, sagte Lambert ungerührt und wandte sich zum Gehen. »So komme ich am besten zur Ruhe. Warte also nicht auf mich.«
Nachdenklich stieg Caroline die Treppen zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Dort angekommen, stellte sie die Öllampe ab, mit der sie ihren Aufstieg beleuchtet hatte, strich die Feuchtigkeit von ihrem Samtmantel und hängte ihn in der Nähe des Ofens an einen Wandhaken. Aus dem Schrank holte sie eine schlanke Flasche hervor, die sie hinter einem Wäschestapel versteckt hielt. Der Nelkenduft des Kirschweins erfreute sie stets aufs Neue, wenn sie sich mit einem Gläschen dieser Köstlichkeit in den Schlaf helfen ließ. Caroline ließ sich auf einem Sessel nieder und streifte die Schuhe ab. Die Regennässe war trotz des kurzen Weges durch das dünne Leder gedrungen, und sie streckte die Füße dem Ofen entgegen. Sie seufzte, als das Getränk in einem wärmenden Rinnsal ihre Kehle hinablief.
Manchmal schon hatte sie den Verdacht gehabt, dass Lambert zu einer kleinen Hure ging, wenn er sich des Nachts aus dem Haus schlich und wohl meinte, ihr bliebe das verborgen. Selbst wenn er es täte, was ihr zu glauben Mühe machte, so wäre sie die Letzte, die ihm das vorwerfen würde. Aber was sollte dann das Gerede von Liebe?
Er musste das wohl aus diesen Büchern haben, die er las, um schließlich selber schwülstige Sonette zu verfassen, an eine namenlose Person gerichtet. Hirngespinste, so viel stand fest. Einmal hatte sie eines seiner unvollendeten Gedichte gelesen, das auf einem losen Blatt offen in seinem Zimmer lag. Schließlich wäre es ihr doch nicht eingefallen, in seinen Dingen herumzuschnüffeln, völlig grundlos.
Nicht nur sie als seine Mutter, sondern jeder Mensch, der Augen im Kopf hatte, konnte Lamberts Gefühle in seinem Gesicht ablesen. Daher musste es ihm nahezu unmöglich sein, ein Geheimnis zu haben. Allerdings schien seine Lektüre – auch darauf hatte sie im Vorübergehen einen Blick werfen können – einen unvorteilhaften Einfluss auf ihn zu haben. Nur wenige dieser aufgeregten Passagen hatten gereicht, um sie gründlich anzuöden, denn Caroline hielt Leidenschaft für eine Nervenschwäche. Mittlerweile geriet sie hin und wieder in kalte Wut, wenn sie ihren Sohn in Romane und Gedichte versunken vorfand, anstatt dass er sich auf seine Apothekerprüfung vorbereitete. Die zweite, nicht zu vergessen, denn vor einem halben Jahr hatte er vor dem Collegium medicum auf eine nahezu gleichmütige Weise versagt. Caroline hatte es seinem Kummer über den Tod des Vaters zugeschrieben und auf Tadel verzichtet. Doch seitdem saß ihnen der Provisor im Pelz, damit sie die Apotheke offen halten durften.
Lambert stand also nicht das mindeste Recht zu, sich über seine Heiratsverpflichtung zu beklagen. Die Schließung der Apotheke hätte sie ansonsten nur mit ihrer eigenen Wiederverheiratung verhindern können, doch dafür blieb keine Zeit. Sie hatte ihr Witwenjahr einzuhalten, und zudem fehlte es an Möglichkeiten. Der Provisor, den man ihr zugewiesen hatte – Stockmann, ein penibler Wichtigtuer -, war indiskutabel. Niemand hätte ihr das Opfer abverlangen können, eine Ehe einzugehen mit diesem verknöcherten Kerl, der unten ein Hinterzimmer der Apotheke bezogen hatte, um Tag und Nacht anwesend zu sein, wie es Vorschrift war. Wahrscheinlich sortierte er sogar jetzt noch Rezepte, verglich sie mit den Eintragungen im Apothekerbuch, kroch auf seinen dünnen Knien durch den Arzneikeller, steckte seine Nase in die Bestände der Kräuterkammer und verbreitete überall seinen säuerlichen Körpergeruch. Caroline verabscheute Stockmann. Mit einem letzten Schluck Kirschwein spülte sie den Mann aus ihren Gedanken, verließ den Platz vor dem Ofen und begann sich auszukleiden.
Sich noch einmal zu verheiraten schien
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