Die Hebamme
den Flur. Auf ihren dicken Strümpfen wusste sie sich ohne einen Laut nach unten zu bewegen. Dabei raffte sie die Röcke, denn inzwischen hatte sie diese mit Lottes Hilfe verlängert, einen schwarzen von Tante Bele zerschnitten, angesetzt, mit kleinen Stichen vernäht, sodass der Saum ihr auf die Füße fiel. Auch ihre bestickte Kappe trug sie nicht mehr, sondern bedeckte am Tag ihr Haar mit einer weißen Haube, wie der Professor es wünschte.
Am Ende des Gangs sah sie im Licht der Schreibkammer die Hebamme Textor dicht über das Buch gebeugt und vor ihr, wie einen Schattenriss, den Rücken der Schwangeren. Sie stand schief, vielleicht hatte sie sich auf ihrem langen Marsch nach Marburg einen Fuß verstaucht. Sie würde sie gleich danach fragen, gleich wenn Frau Textor schlief, wenn sie schnarchen würde. Man konnte es oft bis hinauf in ihre Kammer hören, stundenlang.
»Das kommt vom Branntwein«, hatte Lotte ihr erklärt. »Ich bin sicher, neben ihr könnte der Blitz einschlagen, und sie würde nicht wach davon. Sonst hätte auch dieses arme Ding nicht weglaufen können.«
Das arme Ding. Sie wussten nur, was Pauli, der Hausknecht, ihnen erzählt hatte, und das war nicht viel. Das Mädchen war in die Lahn gesprungen, und man hatte sie wieder rausgefischt. Und was? Pauli hatte an seiner entzündeten Haut gekratzt und nichts mehr gesagt. Lotte war wütend geworden. Männer seien vollkommen nutzlos, wenn man etwas in Erfahrung bringen wollte, befand sie.
Gesa tastete sich in der Küche zum Herdfeuer vor und fachte die Glut neu an. Sie legte Holz nach, zog den schweren Wassertopf über das Feuer und sah sich nach der Schüssel mit dem Gerstenschleim um, der vom Abend übrig geblieben sein musste. Plötzlich war es ihr vollkommen egal, ob jemand sie hören konnte. Eine Frau war angekommen, sie sah elend aus, hungrig und müde. Bestimmt war ihr kalt, fühlte sie sich allein. So wie es aussah, konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie niederkommen würde. Vielleicht hatte sie Angst. Was gab es da zu fragen? Es gab nur eine Menge zu tun.
Gesa konnte nicht wissen, dass es Anna Textor nicht eingefallen wäre, Fragen zu stellen. Vermutlich hatte sie sogar Geräusche aus der Küche gehört, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Sie hatte die Flasche angesetzt und mehrere kräftige Züge genommen. Die Erlösung rollte wie ein Feuerball durch ihren Körper, erhitzte ihre Knochen und machte sie so wunderbar weich, dass sie es kaum glauben konnte. Sie musste sich einfach nur nach hinten fallen lassen, sie brauchte nicht mal eine Decke, wie die Frau nebenan. Sie hatte ihr schließlich noch geleuchtet, bis sie lag. Die wollte doch nichts als ihre Ruhe. Wie sie. Sie war gegangen und hatte sie im Dunkel verschwinden lassen.
»Sie sind gut zu mir, Jungfer. Ich danke Ihnen«, sagte die Frau nebenan. Ihre Hände umschlossen die Tasse mit Melissentee, vom Gerstenbrei hatte sie nur wenig gegessen. Sie saß auf einem der Betten, in mehrere Decken gehüllt, einen Strohsack im Rücken, an den sie sich lehnen konnte, und sah Gesa zu, die vor dem Ofen in der Ecke des Zimmers kniete.
»Sagen Sie mir doch Ihren Namen! Ich habe ganz vergessen, Sie danach zu fragen«, sagte Gesa.
»Ich heiße Franziska Sulzmann, ich … bitte …«
Die Frau war so schwach gewesen und kaum in der Lage, ein Wort zu sagen. Es war Gesa wichtiger erschienen, sie erst mit dem Nötigsten zu versorgen, damit sie wieder zu Kräften kam. Sie hatte sich ihr als Hebammenschülerin vorgestellt, und seitdem nannte die Frau sie Jungfer.
»Was ist denn das für ein Getöse?« Es war Lottes Stimme, in die sich ein Gähnen mischte. »Tür auf, Tür zu, Treppen runter, Treppen rauf, ein Gerenne und Gepolter … und das alles an der Textor vorbei, meine Güte.«
Lotte sah verschlafen aus, ihr zerzauster Zopf fiel vorn über ihr schief geknöpftes Kleid herab, offenbar hatte sie sich hastig im Dunkeln angekleidet.
Der Kienspan in Gesas Fingern drohte zu verlöschen, aber die Holzscheite im Ofen brannten immer noch nicht. Im Nebenzimmer setzte das gleichmäßige Schnarchen für einen Moment aus, und beide – Gesa und Lotte – erschraken gleichermaßen über den Klagelaut, den Franziska Sulzmann nun nicht mehr länger unterdrücken konnte. Die Tasse, aus der sie kaum Tee getrunken hatte, fiel mit einem dumpfen Knall auf den Holzboden, ohne zu zerbrechen.
Lotte schloss die Tür und kniete sich neben Gesa vor den Ofen.
»Komm«, flüsterte sie, »ich mach das mit dem
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